Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
noch immer die Berührung, wie er seine Hände auf meine gelegt hatte.
Fünfzehn
Das Tagebuch von Lady Agnes,
27. Oktober 1882
Ich muss alles herausfinden. Ich muss wissen, wie ich S. wirklich glücklich machen kann, ohne mein eigenes Glück zu zerstören, und wie ich ihn erheben kann, ohne mich zu erniedrigen. Er ist unruhig und unzufrieden, und das überschattet alles.
Ich fürchte, er hat mir nicht verziehen, dass ich die Elementarwelt vor ihm berührt habe. Dieser Augenblick scheint ihm immer noch zuzusetzen, und er sucht nach einem Weg, wie er wieder zum Anführer in unserem ›Spiel‹ werden kann. So hat er sich sehr zufrieden über einen bestimmten Teil der im Buch beschriebenen Lehren gezeigt und mir die entsprechenden Absätze mit großer Freude vorgelesen.
»Es gilt zu beachten, dass nur die Frauen unseres Weges sich mit den Kräften ihres gewählten Elementes verbünden können und auf diese Weise zu Mystischen Schwestern werden …«
»Das erklärt es also, Agnes«, sagte er eifrig. »Wenn ich die Elemente erreichen will, muss ich andere Mittel benutzen. Hör nur!«
»Doch auch Männer können großes Wissen und Weisheit erlangen, indem sie den Mysterien und Riten folgen. So mag ein Mann von unserer Art, der Zugang zur tiefen und feinsinnigen Macht erhält, einen Hexenzirkel aus Schwestern um sich herum errichten, der ihm als ihrem Herrn dient. Durch die Energie seiner Aura kann er die Elementarkräfte der Schwestern berühren. Auf diese Weise wird die traditionelle Herrschaft des stärkeren Geschlechts wiederhergestellt, aber alles muss dem Allgemeinen Wohl dienen.«
»Genau das muss ich tun, Agnes, verstehst du?«
Ich lachte und erklärte, dass ich nicht vorhätte, ihm zu dienen, und er also woanders nach seinem Pulk von Schwestern suchen müsste, die ihm nach Lust und Laune gehorchen würden.
»Du bist schon so verzogen genug, weil du immer im Mittelpunkt stehst«, neckte ich ihn. »Abgesehen davon will ich keinen Herrn.«
»Aber eines Tages wirst du heiraten, Agnes, vielleicht sogar schon bald. Du weißt, dass deine Mutter Pläne schmiedet, dich nächstes Jahr nach London mitzunehmen, damit du dort eine gute Partie machen kannst. Wirst du dann nicht schwören, deinem Ehemann zu gehorchen, so wie deine Kirche das von dir verlangt? Wird er dann nicht dein Herr und Meister sein?«
»Wenn das so ist, werde ich nicht heiraten«, sagte ich leichthin.
»Bist du sicher? Gibt es niemanden, dem du dein Herz schenken könntest?« Er rückte näher an mich heran und berührte mein Gesicht, sanft wie eine Feder, die auf Schnee herabfällt. Mein Herz schlug so heftig wie die Flügel eines gefangenen Vogels, und halb wünschte ich mir, dass er mich küssen würde, während gleichzeitig ein anderer Teil Angst davor hatte. Ich zwang mich zu einem Lachen.
»Ich habe dir gesagt, dass ich meine Freiheit möchte.«
Aber vielleicht entsprach das tief in meinem Innern nicht ganz der Wahrheit. Wir waren in diesen letzten Wochen so viel zusammen gewesen, und doch war es nicht so wie sonst. Wir waren keine Kinder mehr. Wenn er mit hungrigen Augen in dem Buch liest und mich nicht bemerkt, beobachte ich ihn heimlich und versuche zu verstehen, was sich in ihm verändert hat, seit er weg gewesen ist. Die Konturen seiner blassen Wangen, die dunklen, seidigen Haare, die Linie seiner Schultern – all das bewegt mich auf eine seltsame Weise, die ich kaum verstehe. Ich spüre, dass ich alles für ihn tun würde, ob es nun richtig oder falsch ist, gut oder böse. Ich habe Angst, dass ich mich, wenn ich es mir gestatten würde, von der Kraft seiner Gegenwart mitreißen lassen und mich in ihm verlieren würde.
Es ist sehr freundlich von Papa, dass ich S. ohne Anstandsdame sehen darf; er gesteht ihm dies als altem Freund der Familie zu. Ich bekenne jedoch, dass ich ihn ganz und gar nicht mehr einfach nur als Bruder betrachte. Wenn wir voneinander getrennt sind, sehe ich sein Gesicht vor mir, h?re seine Stimme in dem Wind, der ?ber die Moore fegt, nach mir rufen, sehne ich mich nach seiner Ber?hrung.
Was würde mein teurer Vater sagen, wenn er wüsste, wie wir in Wahrheit die Zeit miteinander verbringen? Oder wenn er erahnen könnte, welche Gedanken durch meinen Kopf jagen wie ein Wirbelsturm?
Sechzehn
I ch beantwortete Dads Brief mit geheuchelter Fröhlichkeit. Ja, es geht mir gut;Wyldcliffe ist erstaunlich; ich
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