Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
ich.
»Das geht nicht. Es gibt da etwas, das ich herausfinden muss. Davon hängt alles ab. Komm morgen Nacht zum Schultor. Ich werde auf dich warten.« Er schritt davon, aber dann drehte er sich noch ein letztes Mal um. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Schmerz und Verzweiflung. »Vergiss nicht, dass ich dich liebe.«
Wenige Momente später war er weg, und die Nacht senkte sich dunkel auf mich herab, als hätte jemand alle Lichter gelöscht. Ich wusste, dass wir bei unserem nächsten Treffen Abschied voneinander nehmen würden. Und ich wusste auch, dass der blaue Blitz, der aus dem Anhänger geborsten war, nichts mit statischer Elektrizität zu tun gehabt hatte – ganz egal, was Sebastian behauptet hatte.
Mein Anhänger lag nach wie vor funkelnd auf dem nassen Boden. Ich bückte mich, hob ihn auf und verließ den Garten wie eine Schlafwandlerin.
Neununddreißig
D er Anhänger. Das blaue Feuer. Das Kind. Sebastian. Wie hing das alles zusammen? Ich wusste nicht, wie oder wieso, aber ich spürte, dass Lady Agnes der Schlüssel zu alledem war. Sebastian hatte erst angefangen, sich so eigentümlich zu verhalten, als ich ihren Namen erwähnt hatte. Ich schlich zurück in den Schlafsaal, und als ich einschlief, schien es mir, als wäre es Agnes’ Gesicht und nicht das von Laura, das über mir wachte. Als ich aufwachte, musste ich immer wieder aufs Neue an sie denken.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Sarah an diesem Morgen alles zu erzählen, völlig zuversichtlich, dass ich alle Rätsel gelöst haben würde. Jetzt jedoch war ich verwirrt und hatte Angst. Ich verhielt mich still, grübelte darüber nach, was Sebastian so dringend herausfinden musste. Was konnte es sein? Und wenn er mich liebte, wieso dachte er dann daran, mich zu verlassen?
Die Sekunden und Minuten vergingen quälend langsam. Ich musste mich anstrengen, mich auf das zu konzentrieren, was unsere Biologielehrerin in geisttötenden Details darlegte, und kam in Latein nur ganz knapp ums Nachsitzen herum, weil ich eine ganze Passage Vergil durcheinandergebracht hatte. Aber jede quälende Stunde brachte mich den Antworten näher, die ich brauchte.
Die Dezembersonne war wie eine harte, bittere Frucht am schmutzig gelben Himmel untergegangen. Draußen herrschte Dunkelheit, und die Lampen waren zum Essen eingeschaltet worden. Ich schaute immer wieder auf meine Uhr. Schon bald würde ich ihn sehen. Schon bald würde ich herausfinden …
»Was ist los, Evie?« Sarah beugte sich über den Tisch.
»Ich habe Kopfschmerzen«, log ich, aber sie wirkte nicht überzeugt. Ich gab mir mehr Mühe. »Heute ist Frankies Geburtstag. Es ist irgendwie schwer.« Das stimmte, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Es war nicht nur Frankie, die mir das Herz schwer werden ließ.
Schließlich erhoben wir uns zum Gebet, und die Schüler wurden entlassen. Sarah warf mir ein rasches Lächeln zu, und ich blieb wie immer zurück, um mit Helen die Kaffeetabletts vorzubereiten. Ich sagte absichtlich nichts, während wir gemeinsam arbeiteten. Ich hatte genug im Kopf, auch ohne mich um Helen kümmern zu müssen. Als wir schließlich den letzten Silberlöffel an Ort und Stelle gelegt hatten, drückte sie mir ein Stück Papier in die Hand.
»Was ist das?«, fragte ich kurz angebunden.
»Etwas, das du wissen solltest.« Sie sah furchtbar aus, wirklich schreckhaft und erschöpft. »Lies es einfach nur; das ist alles.«
Sie zockelte mit gesenktem Kopf davon. Ich faltete das Stück Papier auseinander und breitete es auf einem der Tische aus. Es war ein Ausschnitt aus der Lokalzeitung. Wertvolles Gemälde gestohlen , schrie mir die Schlagzeile entgegen. Verwirrt setzte ich mich hin und begann zu lesen.
Ein Einbruch in ein örtliches historisches Gebäude – die Fairfax Hall – hatte jüngst den Verlust eines alten Familienportraits zur Folge. Das Ölgemälde war Bestandteil der Einrichtung seit der Regierungszeit von Königin Viktoria. Einbrecher verschafften sich gewaltsam Zutritt zur Hall, die mittlerweile ein beliebtes Museum ist, und entwendeten das Portrait des eigensinnigen Sohnes von Sir Edward Fairfax, Sebastian Fairfax.
Ich hatte das Gefühl, als würde sich mir eine kalte Hand in den Nacken legen, und hastig überflog ich den Rest des Artikels.
Gerüchten zufolge soll Sebastian sich selbst das Leben genommen haben, obwohl seine Leiche nie gefunden wurde. Mrs. Melinda Dawson, die Museumsdirektorin,
Weitere Kostenlose Bücher