Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
einmal sehen und erfahren würde, ob er seine Narrheiten bereut. Ich bete, dass es so ist, um unser aller willen.
Wenn wir nur in die Zeit zurückkehren könnten, bevor all das begonnen hat, um noch einmal über die Moors zu streifen, wie wir es als Kinder getan haben. Und doch kann ich nichts von dem bedauern, was geschehen ist, denn ohne diese verworrene Geschichte hätte ich nicht mein wunderschönes Baby bekommen, meine liebste Effie. Nur ihr Leben zählt jetzt für mich. Schon bald muss ich den Mut aufbringen, mich meinen Eltern zu offenbaren, und herausfinden, welches Schicksal meine Kleine erwartet und ob sie ihr Schutz gewähren werden, wenn ich gegangen sein werde. Denn etwas in mir sagt mir leise, dass ich nach Wyldcliffe zurückgekehrt bin, um zu sterben.
Trotzdem ist mein Herz voller Hoffnung. Ich bin sicher, dass mein Kind ein glücklicheres Leben führen wird als ich. Und wenn ich mit der wenigen Kraft, die ich noch habe, in die Zukunft sehe, weiß ich, dass irgendwann, wenn meine Tochter und die T?chter meiner Tochter diese Erde verlassen haben werden, das M?dchen vom st?rmischen Meer kommen wird, das ich in meinem Geist gesehen habe, und all dieses gro?e Leid stillen wird.
Tränen verschleierten meinen Blick. Ich konnte die letzten Zeilen kaum lesen.
Letzte Nacht habe ich wieder von ihr geträumt. Sie stand oben in den Moors, ihre Haare wehten im Wind, und um ihren Hals hing mein Geschenk. Während ich sie beobachtete, hob sie die Hand, und die Hügel um sie herum verwandelten sich in hohe, grüne Wellen, die in einem mächtigen Sturm kämpften. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hatte. Aber auch sie ist meine Tochter, meine Schwester, meine Hoffnung. Ich weiß, dass ich stets bei ihr sein werde und dass ich ihr irgendwie helfen werde, wenn sich alles dem Ende nähert.
So viel Leid. Ich wischte mir über die Augen, während ich Agnes in meinem Geiste so klar vor mir sah wie das raue Gras unter meinen Füßen. Über einen niedrigen Tisch gebeugt, schrieb sie mit einem altmodischen Stift und hob mir ihr blasses, ernstes Gesicht entgegen. Sie lächelte.
Bilder von Feuer und Wasser wirbelten in meinem Kopf, von Begegnungen und Streitereien, von seltsamen Ritualen und bedrohlichen Schatten. Und mitten in alldem war ein dunkelhaariger Junge, leidenschaftlich und störrisch und wunderschön. Ein Junge namens Sebastian James Fairfax. Das Buch rutschte von meinen Knien, und ich schloss die Augen.
»Jetzt weißt du es also«, sagte Sebastian leise.
»Was weiß ich?«, zwang ich mich zu fragen. »Dieses Tagebuch muss eine Fälschung sein, ein Witz.« Aber ich wusste in meinem Innern, dass das nicht stimmte.
»Es ist keine Fälschung. Dieses Tagebuch war in einem Lederkästchen neben Agnes’ Grab vergraben worden. In all den vielen, unausgefüllten Jahren habe ich ihre Ruhestätte geachtet, aber letzte Nacht hat mich der Gedanke an ihre verborgenen Aufzeichnungen so sehr gequält, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Agnes hat mir einmal von einem Mädchen erzählt, dass sie in einer seltsamen Vision gesehen hat. Ich musste wissen, ob du dieses Mädchen warst – ob du ein Teil unserer verworrenen Geschichte bist.« Er sah weg, als würde er sich schämen. »Ich … letzte Nacht habe ich das Lederkästchen ausgegraben. Ich musste herausfinden, ob Agnes irgendeinen Hinweis hinterlassen hat, der mir die Wahrheit offenbaren würde.«
»Oh, mein Gott …«
»Du bist diejenige, von der sie geschrieben hat, diejenige, auf die sie gewartet hat. Es ist wahr. Du stammst von ihr ab. Als ich Agnes das letzte Mal gesehen habe, hat sie mir erzählt, dass das Baby tot wäre, aber das stimmte nicht. In Wirklichkeit war es gesund und wohlbehalten und lebte verborgen auf dem Uppercliffe-Hof bei der alten Martha. Nach Agnes’ Tod hat Marthas Familie das Tagebuch versteckt und das Baby als ihr eigenes Kind großgezogen. Diesen Teil der Geschichte hattest du bereits erraten, und du hast auch schon gewusst, dass es der Anhänger von Effie ist, den du da trägst.« Ein hungriger Blick flackerte plötzlich in seinen Augen. »Dieser Anhänger ist der Schlüssel zu allem.«
Ich versuchte ein letztes Mal, vor der Wahrheit wegzulaufen.
»Agnes kann dir gar nicht alles erzählt haben, Sebastian. Sie ist vor mehr als hundert Jahren gestorben, aber du bist jetzt hier bei mir. Es ist alles Vergangenheit. Es ist vorbei. Du bist nur verwirrt; du bist nicht
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