Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
stand auf. Die Bediensteten liefen an mir vorbei und riefen: »Wo ist er? Ist er entkommen? «
»Ich bin hier, ihr Narren!«, schrie ich. »Kommt und holt mich.« Aber sie schienen mich weder zu hören noch zu sehen. Ich war nicht tot, aber ich war auch nicht lebendig. Ich spürte weder Hunger noch Durst noch Schmerz. Die geheimen Zaubertr?nke, die ich zu mir genommen hatte, die ?blen Riten, die ich auf der Jagd nach der Unsterblichkeit ?berstanden hatte, hatten dazu gef?hrt, dass ich nicht mehr lebte, aber auch nicht richtig sterben konnte.?
Er ließ seinen Blick über das Tal schweifen.
»Ich hätte das akzeptiert, Evie, als gerechte Strafe für das, was ich getan hatte. Ein endloses Dasein ohne Bedeutung oder Lebensfreude. Später, als ich von der Abtei geflüchtet war, wurde mir klar, dass das, womit ich es jetzt zu tun hatte, noch weit schlimmer war.« Ein Zittern ging durch seinen Körper, als würde er von einer Schmerzenswoge überrollt. »Die dunklen Meister, denen ich in meiner Suche nach verbotenem Wissen gedient habe, erklärten mir, dass mir in der Schattenwelt, die ich jetzt bewohnte, eine Entscheidung bevorstand. Ich hatte noch eine letzte Chance, zu einem Unbesiegten zu werden wie sie und für immer außerhalb von Zeit und Raum und den Gesetzen Gottes und der Menschen zu existieren. Aber dafür brauchte ich den Talisman.«
»Wieso? Was war so Besonderes an ihm?«
»Agnes hatte nicht nur ihre Macht in dem heiligen Gegenstand versiegelt, sondern auch ihre Liebe zu mir. Nichts anderes konnte mir helfen.«
»Und was, wenn du diesen Talisman nicht finden kannst?«
Sebastian zog eine Grimasse, als würde er vor einer furchtbaren Erinnerung zurückzucken. »Ohne Talisman würde mir nicht gestattet sein, das zu bleiben, was ich war. Zwar konnte ich nicht mehr durch eine Pistolenkugel oder einen Messerstich getötet werden, aber ohne Talisman würde ich letztlich nach und nach verblassen.«
»Verblassen? Das verstehe ich nicht.« Und ich bezweifelte auch, dass ich es jemals tun würde.
»Zu verblassen bedeutet, zu schrumpfen und zu verrotten, Stunde um Stunde und Minute um Minute, bis man zu einem üblen Geist der Dunkelheit wird, zu einem Sklaven, einer Pein für sich selbst und andere. Mit anderen Worten«, sagte er, »ein Dämon. Zu verblassen bedeutet, auch den letzten Funken Menschlichkeit zu verlieren, und sich doch ewig der eigenen Herabstufung bewusst zu sein. Und das ist das, was mit mir geschehen würde. Oh, es mag viele Jahre dauern, mehr als hundert, aber letztlich würde es so kommen.«
Er zitterte. Mir wurde übel bei der Vorstellung, dass Sebastian – so schön, so voller Leben – sich in einen abscheulichen Dämon verwandeln würde. Ich konnte nur denken: Das kann alles nicht wahr sein; es kann einfach nicht wahr sein. Aber es war wahr. Die Erde befand sich unter meinen Füßen, der Himmel über mir. Ich war wach. Und Sebastian sprach unbarmherzig weiter, breitete seine furchtbaren Geheimnisse vor mir aus.
»Ich hatte Angst vor einem solchen Schicksal. Ich hatte das Leben ersehnt, nicht ein Dasein als lebender Toter. Ich schwor, alles zu tun, um den Talisman zu finden und ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Ich scharte die Anhänger meines Hexenzirkels um mich und befahl ihnen, mir zu helfen, meine gequälten Hoffnungen am Leben zu halten. Ich versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich nicht als einer der gefürchteten Unbesiegten leben würde, sondern noch einmal als Mensch; ich würde der Mensch werden, den Agnes in mir gewollt hatte. Ich würde hunderte von Lebensspannen haben, um die Fehler wiedergutzumachen, die ich begangen hatte. Und so suchte ich viele hohle, trostlose Jahre lang nach dem Talisman. Und dann ist etwas passiert ? etwas so Schreckliches ??
»Was denn?«, fragte ich entsetzt. »Was ist passiert?«
»Ich … ich ertrage es nicht, es dir zu sagen. Aber ich schwöre, es hat mich dazu gebracht, meinen Verbrechen endlich ins Gesicht zu sehen. Ich habe den Kampf um den Talisman aufgegeben. Ich habe dem, was mich … genährt hatte, den Rücken gekehrt. Ich habe meine Bestimmung akzeptiert. Und genau an diesem Punkt, als ich schwach war und zu verblassen begann, bin ich dir begegnet.«
Sebastian drehte meine Hand herum, die er in seiner hielt. Er strich über die schwache Narbe, dort, wo ich mich in der Nacht, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, an einer Scherbe geschnitten hatte. Jetzt wusste ich, wieso er in der
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