Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
wo ist Helen? Und wo warst du??
»Du erinnerst dich doch, dass du mir gesagt hast, ich sollte mehr über Sebastian herausfinden, ja?« Ich holte tief Luft. »Nun, das habe ich getan.«
Ich erzählte ihr alles, was ich wusste, so kurz und knapp wie möglich. Ihre Miene veränderte sich; was anfangs Ungläubigkeit war, verwandelte sich erst in Abscheu und dann in Mitgefühl. Und ganz zuunterst lag Angst.
»Dann ist er also ein … Geist?«
»Das glaube ich nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Er befindet sich zwischen den Welten. Im Schattenreich, wie er es genannt hat. Er ist weder auf die gleiche Weise lebendig wie wir, noch kann er richtig sterben.«
»Und wenn er nicht die Hilfe bekommt, die dieser Talisman ihm bietet – dein Anhänger –, dann wird er zu einer Art Dämon werden?«
»Offensichtlich, ja«, sagte ich. Ich hatte nicht mehr genug Energie in mir, um irgendein Gefühl aufzubringen. »Der Alternativplan lautet, dass er mich töten wird, um an den Talisman zu kommen.«
Jetzt sah Sarah mich entsetzt an. »Du musst weg von hier, Evie.«
»Und wie soll das gehen? Soll ich meinem Vater schreiben und sagen: ›Bitte bring mich von Wyldcliffe weg; mein Freund hat sich in einen gefährlichen, hundertfünfzig Jahre alten Geist verwandelt‹? Er wird mich für verrückt halten. Abgesehen davon weiß ich auch gar nicht, wo ich hingehen soll. Mein Vater hat die Insel verlassen, und unser Haus ist die meiste Zeit vermietet. Ich habe keine Familie, nur eine alte Tante, die in Wales lebt. Zu ihr soll ich auch im Sommer fahren, wenn alles gut geht.?
»Kannst du nicht so tun, als wärst du krank oder so was?«
»Es ist sinnlos, Sarah«, sagte ich mit ausdrucksloser, matter Stimme. »Ich kann vor alledem nicht weglaufen. Es gibt kein Entkommen. Und ich kann auch Sebastian nicht wiedersehen.« Ich brach in Tränen aus.
»Komm, Evie, du bist erschöpft«, sagte Sarah. »Gehen wir wieder nach drinnen.« Sie nahm meinen Arm und begann schon, mich ins Haus zu führen, als ihre Finger sich in meine Haut bohrten.
»Evie, sieh nur!«, rief sie. »Da oben!«
Sarah deutete nach oben zum hohen Dach, dessen Ziegel von der Witterung mitgenommen waren. Hinter einem spitzen Turm, der auf der anderen Seite des Gebäudes aufragte, befand sich die Gestalt eines Mädchens. Und diesmal zweifelte ich nicht im Geringsten daran, wer das war. Es war Helen, deren helle Haare ihr bis über das Nachthemd fielen; sie hob Arme und Gesicht zum Himmel, als würde sie die fahle Morgendämmerung begrüßen.
»Was um alles in der Welt …? Helen!«, schrie ich.
»Still!«, sagte Sarah. »Wenn du sie ablenkst, wird sie runterfallen. «
Aber es war sogar noch schlimmer. Einen Moment später breitete Helen die Arme weit aus, machte einen Schritt nach vorn und stürzte in die Tiefe. Leicht wie ein Schatten fiel sie nach unten und verschwand auf der anderen Seite der Abtei aus unserem Blickfeld.
Wir liefen zur Vorderseite des Hauses; unsere Füße flogen nur so über den Kies. »Bitte, sei nicht verletzt, bitte, bitte …«, betete ich blind drauflos. Alles, was ich vor meinem geistigen Auge sehen konnte, war Helens zerschmetterter Körper, wie er beim Haupteingang auf dem Boden lag. Aber als wir die Treppenstufen dort erreichten, war niemand zu sehen.
Unmöglich.
Wir schlichen uns in die Eingangshalle. Noch brannte im Kamin kein Feuer, und auch von den Mitarbeitern war noch niemand auf. Aus dem Korridor links von uns waren leise Stimmen zu hören.
Sarah machte mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Wir schlichen uns so leise wie möglich an den Portraits und der Täfelung und den geschlossenen Türen vorbei. Die Stimmen schienen aus dem Arbeitszimmer von Mrs. Hartle zu kommen, und es klang, als würde dort gestritten. Die Tür stand leicht auf. Wir schoben uns lautlos heran und blinzelten hinein, achteten dabei darauf, dass wir nicht gesehen wurden. Helen stand vor dem Tisch der Obersten Mistress, trotzig, stumm, aber unverletzt. Wie konnte sie nur vom Dach gesprungen sein, ohne dabei wie eine Chinapuppe zu zerplatzen?
Mrs. Hartle schien sich allerdings gar nicht sonderlich für Helens Sturz zu interessieren. Wut verzerrte ihre sonst so ruhige und kühle Miene.
»Wie konntest du es wagen, eine solche Show abzuziehen? Ist dir gar nicht in den Sinn gekommen, dass dich jemand dabei hätte sehen können? Willst du alles verraten?«
»Ja, das will ich«, gab Helen heftig
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