Die achte Karte
auf dem Weg nach Andorra war. Die Rezeptionistin sah entsprechend angespannt aus. Von Hal war nichts zu sehen. Meredith machte sich darauf gefasst, dass er nicht kommen würde. Im nüchternen Tageslicht und ohne den Mut, den der Alkohol verleiht, bereute er vielleicht den Impuls, der ihn bewogen hatte, sich mit einer Wildfremden zu verabreden. Gleichzeitig hoffte sie jedoch irgendwie, dass er kommen würde. Keine große Sache, alles ganz zwanglos, und sie wäre auch wirklich nicht am Boden zerstört, wenn sie versetzt würde. Trotzdem, das nervöse Kribbeln in ihrer Magengrube war nicht zu leugnen.
Sie lenkte sich ab, indem sie die Fotos und Gemälde betrachtete, die rundum in der Lobby hingen. Da waren die üblichen Ölgemälde, wie sie in jedem ländlichen Hotel zu finden waren. Landschaften, Türme in diesigem Licht, Schäfer, Berge, nichts Bemerkenswertes. Die Fotos waren dagegen schon interessanter und sollten offensichtlich die Fin-de-Siècle-Atmosphäre unterstreichen. Gerahmte Porträts in Sepiatönen, braun und grau. Frauen mit ernster Miene, enggeschnürter Taille und weiten Röcken, das Haar auf den Kopf getürmt. Männer mit Schnurrbart oder Backenbart, in steifen Posen, den Rücken durchgedrückt und mit starrem Blick in die Kamera.
Meredith ließ die Augen über die Wände schweifen, nahm die allgemeine Wirkung wahr, statt sich jedes Bild einzeln anzusehen, bis sie zu einem Porträt kam, das gleich über dem Flügel hing, den sie am Vorabend gesehen hatte, rechts neben der geschwungenen Treppe. Es war ein gestelltes Gruppenfoto, der schwarze Holzrahmen an den Ecken angeschlagen, und sie erkannte den Platz in Rennes-les-Bains. Sie trat einen Schritt näher. In der Mitte posierte ein Mann mit schwarzem Schnurrbart auf einem verzierten Metallstuhl. Er hatte das dunkle Haar glatt aus dem Gesicht gekämmt und balancierte Hut und Gehstock quer auf den Knien. Links hinter ihm stand eine schöne, ätherisch aussehende Frau, schlank und elegant in einer gutgeschnittenen dunklen Jacke mit hochgeschlossener Bluse und langem Rock. Ihr schwarzer Halbschleier war vom Gesicht gehoben und ließ helles Haar erkennen, das zu einem kunstvollen Chignon aufgesteckt war. Ihre schlanken, schwarzbehandschuhten Finger ruhten leicht auf der Schulter des Mannes. Die Dritte im Bunde war ein junges Mädchen auf der rechten Seite; sie trug einen Filzhut, unter dem lockiges Haar hervorschaute, und eine kurze Jacke mit Messingknöpfen und Samtbesatz.
Ich hab sie schon mal gesehen.
Meredith blinzelte. Der direkte, offene Blick dieses Mädchens hatte etwas an sich, das sie fesselte und wie ein Echo durch ihren Kopf hallte. Der Schatten einer anderen, ähnlichen Fotografie? Ein Gemälde? Die Tarotkarten vielleicht? Sie zog die schwere Klavierbank beiseite und beugte sich noch näher heran, durchforstete ihr Gehirn, doch die Erinnerung wollte nicht kommen. Das Mädchen war ausnehmend hübsch, mit widerspenstigen Locken, keckem Kinn und Augen, die geradewegs in die Kamera starrten.
Meredith betrachtete erneut den Mann in der Mitte. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Mädchen war unübersehbar. Vielleicht Bruder und Schwester? Sie hatten die gleichen langen Wimpern, den gleichen offenen Blick, die gleiche leicht geneigte Kopfhaltung. Die andere Frau wirkte dagegen weniger eindeutig. Ihr Teint, ihr helles Haar, ihre leicht distanzierte Ausstrahlung. Trotz ihrer körperlichen Nähe zu den anderen schien sie irgendwie substanzlos zu sein. Sie war da und auch wieder nicht. Als könnte sie jeden Moment gänzlich den Blicken entschwinden. Wie Debussys Mélisande, dachte Meredith, umwehte sie eine Aura, als gehöre sie in eine andere Zeit und an einen anderen Ort.
Meredith spürte, wie ihr Herz sich verschloss. Da war derselbe Gesichtsausdruck, an den sie sich erinnerte, wenn sie als kleines Kind in die Augen ihrer leiblichen Mutter geblickt hatte. Manchmal war Jeanettes Miene sanft gewesen, wehmütig, manchmal zornig, verzerrt. Aber immerzu, an guten wie an schlechten Tagen, war die Ausstrahlung ihrer Mutter die gleiche gewesen, als wäre sie abgelenkt, mit ihren unsteten Gedanken woanders, bei Menschen, die niemand sonst sehen konnte, als hörte sie Worte, die niemand sonst hören konnte.
Schluss damit.
Entschlossen, sich nicht von ihren schlechten Erinnerungen beeinträchtigen zu lassen, streckte Meredith beide Arme aus und nahm das Foto von der Wand. Sie suchte nach einer Bestätigung, dass es tatsächlich in Rennes-les-Bains
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