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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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aufgenommen worden war, nach einer Jahreszahl, nach irgendeinem Hinweis.
    Das zerknitterte braune Wachspapier löste sich stellenweise vom Rahmen, doch die Worte, die in Blockschrift auf der Rückseite standen, waren deutlich lesbar.
    Rennes-les-Bains, Oktober 1891 , und dann die Nennung des Fotoateliers, Editions Bousquet. Neugier verdrängte ihre unliebsamen Emotionen.
    Darunter drei Namen.
    MADEMOISELLE LÉONIE VERNIER, MONSIEUR ANATOLE VERNIER, MADAME ISOLDE LASCOMBE.
    Meredith spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten, als sie an das Mausoleum ganz hinten auf dem Friedhof von Rennes-les-Bains dachte: FAMILLE LASCOMBE-BOUSQUET. Jetzt waren hier auf dem Foto die beiden Namen erneut vereint.
    Sie war sicher, dass es sich bei den beiden jüngeren Personen um die Verniers handelte, die angesichts der Ähnlichkeit bestimmt eher Bruder und Schwester waren als Mann und Frau. Die ältere Frau wirkte wie ein Mensch, der schon mehr gesehen hatte. Ein weniger behütetes Leben geführt hatte. Und plötzlich fiel Meredith wieder ein, wo sie die Verniers schon einmal gesehen hatte: in Paris, als sie die Rechnung im Petit Chablisien bezahlt hatte, auf der Straße, in der Debussy einmal gelebt hatte. Der Komponist blickte aus einem Bilderrahmen auf sie herab, finster und griesgrämig. Und neben ihm, als seine Nachbarn an der Wand des Restaurants, waren derselbe Mann und dasselbe Mädchen auf einem Foto zu sehen, allerdings zusammen mit einer anderen und älteren Frau.
    Meredith ärgerte sich, dass sie damals nicht genauer hingeschaut hatte. Einen Moment lang erwog sie sogar, in dem Restaurant anzurufen und nachzufragen, ob man dort mehr über das Familienporträt wusste, das an so exponierter Stelle hing. Doch die Vorstellung, ein solches Gespräch auf Französisch führen zu müssen, noch dazu am Telefon, ließ sie den Gedanken rasch wieder verwerfen.
    Während sie die Fotografie weiter betrachtete, schien das andere Porträt dahinter durchzuschimmern, Schatten des Mädchens und des jungen Mannes, die Menschen, die sie einst und jetzt waren. Für eine Sekunde wusste sie –
glaubte
zu wissen – wie die Geschichten, denen sie nachging, zusammenhängen mochten, auch wenn ihr der Grund dafür noch rätselhaft blieb.
    Sie hängte den Rahmen zurück an die Wand, nahm sich aber vor, sich das Foto später auszuborgen. Als sie die schwere Klavierbank zurückschob, fiel ihr auf, dass der Deckel des Instruments jetzt hochgeklappt war. Die Elfenbeintasten waren ein wenig vergilbt und die Ränder rissig wie alte Zähne. Spätes 19 . Jahrhundert, schätzte sie. Ein Blüthner-Salonflügel.
    Sie drückte das eingestrichene C. Die Note hallte klar und laut in den Raum. Sie sah sich schuldbewusst um, aber niemand achtete auf sie. Alle waren zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Im Stehen, als wäre es zu verpflichtend, sich hinzusetzen, spielte Meredith die a-Moll-Tonleiter. Bloß ein paar tiefe Oktaven mit der linken Hand. Dann das Arpeggio mit der rechten. Die kühlen Tasten an ihren Fingerspitzen fühlten sich gut an.
    Als wäre sie nach Hause gekommen.
    Die Bank war aus dunklem Mahagoniholz mit kunstvoll geschnitzten Beinen und einem roten Samtkissen, das durch eine Reihe Messingnägel am Deckel befestigt war. Meredith fand es genauso interessant, in den Notensammlungen anderer Leute herumzustöbern, wie mit den Fingern an den Bücherregalen von Bekannten entlangzugleiten, wenn diese für einen Augenblick das Zimmer verließen. Die Messingangeln quietschten, als sie den Deckel öffnete, und sogleich stieg ihr der typische Geruch von Holz, alter Musik und Bleistiftminen in die Nase.
    Zum Vorschein kamen ein ordentlicher Stapel Bücher und lose Notenblätter. Meredith sah den Packen durch und musste lächeln, als sie auf Debussys
Clair de lune
und
La Cathédrale engloutie
in ihren unverkennbaren blassgelben Durand-Ausgaben stieß. Die übliche Sammlung von Beethoven- und Mozart-Sonaten sowie Bachs
Wohltemperiertes Klavier,
Band eins und zwei. Europäische Klassiker, Etüden, einzelne Notenblätter, ein paar eingängige Melodien aus Offenbachs
La Vie Parisienne
und
Gigi.
    »Nur zu«, sagte eine Stimme über ihre Schulter. »Ich warte gern.«
    »Hal!«
    Sie ließ den Deckel der Bank mit einem schuldbewussten Knall zufallen, und als sie sich zu ihm umwandte, lächelte er sie an. Er sah heute Morgen besser aus, sogar richtig gut. Die Sorgen- und Kummerfalten waren aus seinen Augenwinkeln verschwunden, und er wirkte

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