Die achte Karte
Ende des elften Jahrhunderts befand sich hier ganz in der Nähe eine Kirche, die Saint-Gimer gewidmet war. Der jetzige Bau wurde 1854 bis 1859 errichtet, als feststand, dass es aufgrund des maroden Zustands der ursprünglichen Kirche ratsamer war, eine neue zu bauen, statt die alte zu restaurieren.«
»Ich verstehe«, sagte sie und verzog dann das Gesicht.
Wie langweilig ich mich anhöre. Wie dumm.
»Der Bau der neuen Kirche begann unter der Leitung von Monsieur Viollet-le-Duc«, fuhr Constant fort, »doch beendet wurde er nach dessen Plänen von einem einheimischen Architekten, Monsieur Cals.«
Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und drehte sie in Richtung Hauptschiff. Léonie stockte der Atem, und eine Hitzewelle durchströmte sie.
»Der Altar, die Kanzel, die Kapellen und die Lettner sind allesamt Viollet-le-Ducs Arbeit«, sagte er. »Ganz typisch. Eine Stilmischung, Nord und Süd. Viele Objekte vom ursprünglichen Gebäude wurden hierhergebracht. Und obwohl die Kirche für meinen Geschmack recht modern ist, hat sie dennoch Charakter. Finden Sie nicht auch, Mademoiselle Vernier?«
Léonie spürte, wie seine Hände sich von ihren Schultern lösten und kurz über ihren Rücken glitten. Sie konnte nur nicken, weil sie ihrer Stimme nicht traute.
Im Seitengang stimmte eine Frau, die im goldenen Schatten eines in die Wand eingelassenen Reliquienschreins auf dem Boden saß, ein Wiegenlied an, um den unruhigen Säugling in ihren Armen zu beruhigen.
Dankbar für die Ablenkung schaute Léonie zu ihr hinüber.
Aquèla Trivala
Ah qu’un polit quartier
Es plen de gitanòs.
Die Worte schwebten durch die Kirche ins Hauptschiff, wo Léonie und Constant standen.
»Einfache Dinge haben einen großen Charme«, sagte er.
»Das ist Okzitanisch«, sagte sie in der Hoffnung, Eindruck zu schinden. »Die Dienstboten zu Hause sprechen es untereinander, wenn sie glauben, dass niemand zuhört.«
Sie spürte, wie er aufmerkte.
»Zu Hause?«, sagte er. »Verzeihen Sie, Ihrer Kleidung und Ihrem Auftreten nach habe ich angenommen, Sie sind auf Reisen. Ich hatte Sie für eine
vraie Parisienne
gehalten.«
Léonie lächelte über das Kompliment. »Ihr Scharfsinn, Monsieur Constant, macht Ihnen schon wieder alle Ehre. Mein Bruder und ich sind tatsächlich nur zu Gast im Languedoc. Wir wohnen im 8 . Arrondissement, nicht weit vom Gare Saint-Lazare. Kennen Sie das
quartier?
«
»Nur durch die Gemälde von Monsieur Monet, leider.«
»Von unseren Salonfenstern ist der Place d’Europe zu sehen«, sagte sie. »Wenn Sie die Gegend kennen würden, könnten Sie sich genau vorstellen, wo wir wohnen.«
Er zuckte bedauernd die Achseln. »In diesem Fall würde mich interessieren, wenn die Frage nicht zu aufdringlich ist, was Sie ins Languedoc führt, Mademoiselle Vernier? Zumal um diese Jahreszeit.«
»Wir verbringen einen Monat bei einer Verwandten. Einer Tante.«
Er verzog das Gesicht. »Mein aufrichtiges Mitgefühl«, sagte er.
Léonie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er sie neckte.
»Oh«, sagte sie lachend, »so eine Tante ist Isolde ganz und gar nicht. Keine Mottenkugeln und Eau de Cologne. Sie ist schön und jung und stammt ursprünglich auch aus Paris.«
Sie sah etwas in seinen Augen aufblitzen – Genugtuung, ja Entzücken. Sie errötete vor Freude darüber, dass er das Getändel mit ihr genauso genoss wie sie.
Alles völlig harmlos.
Constant legte eine Hand aufs Herz und deutete eine Verbeugung an. »Ich nehme alles zurück.«
»Ich vergebe Ihnen«, erwiderte sie kokett.
»Und Ihre Tante«, sagte er, »diese schöne und charmante Isolde, ursprünglich aus Paris, wohnt jetzt in Carcassonne?«
Léonie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sind nur für ein paar Tage in der Stadt. Meine Tante hat hier zu tun, es geht um den Nachlass ihres verstorbenen Mannes. Wir wollen heute Abend in ein Konzert.«
Er nickte. »Carcassonne ist eine bezaubernde Stadt und hat sich in den letzten zehn Jahren gut entwickelt. Viele ausgezeichnete Restaurants und Geschäfte, auch Hotels.« Er hielt inne. »Oder haben Sie vielleicht schon eine Wohnung gemietet?«
Léonie lachte. »Wie gesagt, wir sind nur ein paar Tage hier, Monsieur Constant. Das Hôtel Saint-Vincent genügt unseren Ansprüchen vollkommen!«
Die Kirchentür ging auf, und weitere Touristen, die dem Regen entkommen wollten, brachten einen Schwall kalte Luft mit herein. Léonie fröstelte, als die nassen Röcke gegen ihre kalten Beine wehten.
»Beängstigt
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