Die achte Karte
und trug sie die Treppe hinauf. Strähnen ihres blonden Haars, das ihr jetzt lose über den Rücken fiel, hingen wie blasse Seide auf seinen schwarzen Jackenärmeln.
Verblüfft sah Léonie ihnen nach. Als sie ihre Gedanken wieder gesammelt hatte, waren alle verschwunden, und sie konnte allein sehen, wie sie zurechtkam.
Durchgefroren und mürrisch folgte sie ihnen nach oben. Sie kleidete sich aus und stieg ins Bett. Die Laken fühlten sich klamm an. Der Kamin war kalt. Ihr Zimmer wirkte abweisend und freudlos.
Sie versuchte zu schlafen, nahm aber die ganze Zeit Anatoles rastlose Schritte auf dem Flur wahr. Später hörte sie das Klacken seiner Schuhe auf den Fliesen unten in der Halle, wo er auf und ab ging, wie ein Soldat auf Nachtwache, und das Geräusch der sich öffnenden Haustür.
Dann Stille.
Endlich fiel Léonie in einen ruhelosen Halbschlaf und träumte von Victor Constant.
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Achter Teil
Hôtel de la Cade
Oktober 2007
Kapitel 63
Dienstag, 30 . Oktober 2007
M eredith sah Hal, ehe er sie bemerkte. Bei seinem Anblick tat ihr Herz einen Sprung. Er saß lässig in einem von drei niedrigen Sesseln, die um einen kleinen Tisch gruppiert waren. Er trug so ziemlich dieselben Sachen wie zuvor, Jeans und ein weißes T-Shirt, hatte aber seinen blauen Pullover gegen einen hellbraunen eingetauscht. Während sie ihn beobachtete, hob er eine Hand und strich sich das widerspenstige Haar aus der Stirn.
Die Geste war Meredith schon so vertraut, dass sie lächeln musste. Sie ließ die Tür hinter sich zuschwingen und ging auf ihn zu.
Als sie näher kam, stand er auf.
»Hi«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Harter Nachmittag?«
»Ich hatte schon bessere«, sagte er und begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange, bevor er sich umdrehte und dem Kellner winkte. »Was möchten Sie trinken?«
»Der Wein, den Sie gestern Abend empfohlen haben, war gut.«
Hal bestellte.
»Une bouteille du Domaine Begude, s’il vous plaît, Georges. Et trois verres.«
»Drei Gläser?«, fragte Meredith.
Hals Gesicht verdunkelte sich. »Ich bin meinem Onkel über den Weg gelaufen. Er denkt anscheinend, Sie hätten nichts dagegen. Er hat gesagt, dass er auch schon mit Ihnen geplaudert hätte. Und als ich ihm sagte, wir wollten zusammen was trinken, hat er sich selbst eingeladen.«
»Unsinn.« Sie wollte den Eindruck, den Hal gewonnen haben musste, möglichst rasch korrigieren. »Er hat mich gefragt, ob ich wüsste, wo Sie hinwollten, nachdem Sie mich hier abgesetzt haben. Und ich habe das verneint. Das war alles.«
»Verstehe.«
»Unter Plaudern verstehe ich etwas anderes«, schob sie zur Bekräftigung nach. Sie beugte sich vor, die Hände auf den Knien. »Wie ist es denn heute Nachmittag gelaufen?«
Hal warf einen Blick zur Tür, sah dann wieder Meredith an.
»Was halten Sie davon, wenn ich für uns einen Tisch zum Abendessen reserviere? Ich hab keine Lust, anzufangen und dann gleich wieder abbrechen zu müssen, weil mein Onkel dazukommt. Und so haben wir nachher auch einen guten Vorwand, uns von ihm zu verabschieden. Was meinen Sie?«
Meredith schmunzelte. »Hört sich gut an«, sagte sie. »Ich habe das Mittagessen ausgelassen und bin völlig ausgehungert.«
Mit freudiger Miene stand Hal auf. »Bin gleich wieder da.«
Meredith schaute ihm nach, als er zur Tür ging, und es gefiel ihr, wie er mit seinen breiten Schultern den Raum auszufüllen schien. Sie sah, wie er stehenblieb und sich dann umdrehte, als hätte er ihre Augen im Rücken gespürt. Ihre Blicke trafen sich und hielten sich für einen Moment fest. Dann lächelte Hal sie ganz langsam an, drehte sich wieder um und verschwand nach draußen.
Jetzt war es Meredith, die sich ihre schwarzen Ponyfransen aus dem Gesicht strich. Sie spürte, wie die Mulde an ihrem Hals heiß anlief und ihr die Handflächen feucht wurden, und schüttelte über ihre alberne Schulmädchenreaktion den Kopf.
Georges brachte den Wein in einem Eiskübel mit Ständer und schenkte ihr etwas in ein großes Tulpenglas ein. Meredith trank rasch mehrere Schlucke hintereinander, als wäre es Mineralwasser, und fächerte sich mit der Cocktailkarte, die auf dem Tisch lag, Kühlung zu.
Sie ließ den Blick durch die Bar schweifen. Beim Anblick der bis zur Decke reichenden Regale fragte sie sich, ob manche Bücher darin zur ursprünglichen Bibliothek gehört und den Brand überstanden hatten, und falls ja, ob Hal vielleicht wusste, welche das waren. Ihr kam der Gedanke, dass es
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