Die achte Karte
noch immer gegen das Haus. Andere Gäste kamen und gingen, traten die Nässe von den Schuhen ab und schüttelten die Hüte aus. Die Mairie, so sprach sich herum, hatte angeblich die Warnung herausgegeben, dass die Aude kurz davor war, über die Ufer zu treten.
Bouchou schnaubte. »Das sagen die jedes Jahr im Herbst, aber passiert ist es noch nie!«
Thouron hob die Augenbrauen. »Noch nie?«
»Jedenfalls nicht in den letzten Jahren«, räumte Bouchou mit einem Grinsen ein. »Ich glaube, heute Abend werden die Deiche noch halten.«
Das Gewitter erreichte das Haute Vallée um kurz nach acht Uhr abends, als der Zug mit Léonie, Anatole und Isolde kurz vor Limoux war.
Ein Donnerschlag, dann schlitzte ein gezackter Blitz den dunkellila Himmel auf. Isolde stieß einen Schrei aus. Sogleich war Anatole an ihrer Seite.
»Je suis là«,
beruhigte er sie.
Ein weiterer krachender Donner zerriss die Luft, ließ Léonie auf ihrem Platz zusammenzucken, und gleich darauf folgte ein zweiter Blitz, während das Gewitter über die Ebene näher und näher kam. Die Seekiefern, die Platanen, die Buchen schwankten und krümmten sich im böigen Crescendo des Windes. Sogar die Rebstöcke, ordentlich in Reih und Glied, wurden vom Sturm heftig gerüttelt.
Léonie wischte die beschlagene Scheibe sauber und beobachtete halb entsetzt, halb fasziniert das Tosen der Elemente über ihnen. Der Zug quälte sich mühselig weiter. Mehrmals mussten sie auf freier Strecke anhalten und warten, bis herabgefallene Äste und sogar kleine Bäume, die der prasselnde Regen von den steilen Hängen der Schluchten gespült hatte, von den Gleisen geräumt worden waren.
An jedem Bahnhof stiegen mehr und mehr Leute zu, doppelt so viele, wie ausstiegen. Zum Schutz gegen den Regen, der durch die undichten Waggonfenster drang, wurden Hüte tief in die Stirn gezogen und Kragen hochgeklappt. Die Haltezeiten verlängerten sich von Bahnhof zu Bahnhof, die Waggons füllten sich bis zum Bersten mit Menschen, die vor dem Unwetter flüchteten.
Eine Ewigkeit später erreichten sie Couiza. In den Tälern war das Wetter nicht ganz so schlimm, trotzdem war keine Droschke zu finden, und den letzten
courrier publique
hatten sie verpasst. Anatole sah keine andere Möglichkeit, als einen Ladenbesitzer herauszuklopfen, den er bat, seinen Jungen mit einem Maultier das Tal hinauf zu Pascal zu schicken, damit er sie mit dem Gig abholen kam.
Die Wartezeit überbrückten sie in einem armseligen Restaurant gleich neben dem Bahnhof. Die Küche hatte bereits geschlossen, doch als die Frau des Besitzers Isoldes gespenstisch bleiches Gesicht und Anatoles unverhüllte Sorge sah, erbarmte sie sich dieser mitgenommenen Gäste und servierte ihnen Ochsenschwanzsuppe und trockenes Schwarzbrot, dazu eine Flasche kräftigen Wein aus der Gegend um Tarascon.
Zwei Männer, die ebenfalls Schutz vor dem Unwetter suchten, gesellten sich zu ihnen und erzählten, sie hätten gehört, dass die Aude in Carcassonne kurz davor war, die Dämme zu durchbrechen. Die Viertel Trivalle und Barbacane standen schon teilweise unter Wasser.
Léonie wurde blass, als sie sich vorstellte, wie das schwarze Wasser gegen die Stufen der Église Saint-Gimer schwappte. Wie leicht hätte sie in der Falle sitzen können. Wenn die Berichte glaubhaft waren, standen die Straßen, durch die sie geschlendert war, inzwischen unter Wasser. Dann schoss ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf. War Victor Constant in Sicherheit?
Die Vorstellung, er könnte in Gefahr sein, zerrte auf dem ganzen Rückweg zur Domaine de la Cade derart an ihren Nerven, dass sie weder die Unbilden der Fahrt spürte noch mitbekam, wie schwer sich die müden Pferde auf den rutschigen und gefährlichen Straßen nach Hause plagen mussten.
Als sie schließlich in die lange, kiesbestreute Auffahrt einbogen und die Räder schwerfällig über nasse Steine und Schlamm rollten, war Isolde kaum noch ansprechbar. Ihre Lider flatterten, während sie darum rang, bei Bewusstsein zu bleiben. Ihre Haut fühlte sich kalt an.
Anatole stürzte ins Haus und erteilte lautstark Anweisungen. Marieta sollte ein Pulver mischen, das ihrer Herrin beim Einschlafen helfen sollte, ein anderes Mädchen sollte für Isolde den
moine
holen, den Bettwärmer, der die Kälte aus den Laken vertreiben würde, eine Dritte das Feuer schüren, das bereits im Kamin brannte. Dann sah Anatole, dass Isolde sich vor Schwäche kaum noch auf den Beinen halten konnte, und so hob er sie auf die Arme
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