Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
ihrem Bruder nicht mehr von der Seite, und alle Gedanken an Victor Constant waren fürs Erste wie weggeblasen. Vorläufig waren die Domaine de la Cade und die Liebe und Zuneigung für die Menschen, die auf dem Gut weilten, das Einzige, was ihr Herz und ihren Verstand beschäftigte.
    Isolde verbrachte das Wochenende im Bett. Sie war schwach und ermüdete leicht, doch Léonie las ihr an den Nachmittagen vor, und allmählich kehrte wieder etwas Farbe in ihre Wangen zurück. Anatole kümmerte sich in ihrem Namen um das Anwesen und saß sogar abends in ihrem Zimmer an ihrem Bett. Falls die Diener eine solche Vertraulichkeit befremdlich fanden, so verkniffen sie sich jedenfalls in Léonies Nähe jede Bemerkung darüber.
    Mehrmals ertappte Léonie Anatole dabei, dass er sie ansah, als wollte er ihr etwas anvertrauen. Aber wenn sie ihn dann fragte, lächelte er nur und sagte, es sei nichts, dann senkte er den Blick und widmete sich wieder dem, womit er gerade beschäftigt war.
    Am Sonntagabend war Isoldes Appetit wieder so weit hergestellt, dass man ihr das Abendessen auf einem Tablett in ihrem Zimmer servierte. Zu Léonies Freude war der hohle, angespannte Ausdruck im Gesicht ihrer Tante verschwunden, und sie sah auch nicht mehr so dünn aus. Ihre Haut schien zu strahlen, und in ihren Augen lag ein neuer Glanz. Léonie wusste, dass auch Anatole das registriert hatte. Er ging pfeifend durchs Haus und wirkte deutlich erleichtert.
    Hauptgesprächsthema unter den Bediensteten war die verheerende Überschwemmung in Carcassonne. Stadt und Land waren gleichermaßen von den Folgen der Unwetter, die von Freitagmorgen bis Sonntagabend angedauert hatten, betroffen. Die Postverbindungen waren gestört und in manchen Gebieten völlig unterbrochen. Um Rennes-les-Bains und Quillan war die Lage schlecht, keine Frage, aber nicht schlimmer, als man es von den herbstlichen Unwettern gewohnt war.
    Am Montagabend jedoch trafen auf der Domaine de la Cade die ersten Meldungen von der Katastrophe ein, die Carcassonne heimgesucht hatte. Nach drei Tagen unablässigen Regens, im Tiefland noch schlimmer als in den höher gelegenen Dörfern, war die Aude am Sonntag in den frühen Morgenstunden schließlich über die Ufer getreten und hatte die Bastide und andere Gebiete in Flussnähe überflutet. Ersten Berichten zufolge stand ein Großteil der
quartiers
Trivalle und Barbacane vollständig unter Wasser. Die Pont Vieux zwischen der mittelalterlichen Cité und der Bastide war ebenfalls überschwemmt, aber noch passierbar. In den Gärten des Hôpital des Malades stand das Wasser knietief. Etliche andere Gebäude am linken Ufer waren ebenfalls Opfer der Fluten geworden.
    Weiter flussaufwärts, näher am Wehr von Païchérou, hatte der angeschwollene Fluss ganze Bäume entwurzelt und mitgerissen, während andere sich noch verzweifelt im Schlamm festklammerten.
    Léonie lauschte diesen Meldungen mit wachsender Besorgnis. Sie fürchtete um das Wohl von Monsieur Constant. Obwohl sie keinen Grund zu der Annahme hatte, dass ihm etwas zugestoßen war, ließen ihr diese Sorgen keine Ruhe. Ihre Seelenqual war umso größer, als sie Anatole nicht gestehen konnte, dass sie die überfluteten Gebiete kannte oder dass sie ein ganz besonderes Interesse an der Lage in Carcassonne hatte.
    Léonie machte sich Vorwürfe. Sie wusste, dass es vollkommen lächerlich war, so stark für eine Person zu empfinden, in deren Gesellschaft sie kaum mehr als eine Stunde verbracht hatte. Und doch beherrschte Monsieur Constant ihre romantischen Vorstellungen und wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. So kam es, dass sie, anders als in den ersten Oktoberwochen, wo sie am Fenster gesessen und auf einen Brief von ihrer Mutter aus Paris gewartet hatte, gegen Ende des Monats stattdessen darüber nachgrübelte, ob vielleicht auf dem Postamt in Rennes-les-Bains ein nicht abgeholter Brief aus Carcassonne lag.
    Die Frage war, wie konnte sie persönlich eine Fahrt in die Stadt bewerkstelligen? Ausgeschlossen, einem der Diener eine derart delikate Angelegenheit anzuvertrauen, nicht einmal dem liebenswerten Pascal oder der guten Marieta. Und es gab noch etwas zu bedenken: Falls der
patron
des Hotels ihre Nachricht nicht zur vereinbarten Zeit zum Square Gambetta gebracht hatte – falls das Konzert überhaupt stattgefunden hatte –, dann wäre Monsieur Constant – der ja offensichtlich ein Mann mit Grundsätzen war – ehrenhalber verpflichtet, die Angelegenheit nicht

Weitere Kostenlose Bücher