Die achte Karte
gegenüberliegenden Seite des langen, ovalen Tischs, so dass sie mit Blick zur Tür saß.
Ein Gedanke plagte sie: Sollte das üble Wetter in Carcassonne ohne Unterlass anhalten, sähe sich der
patron
des Hotels vielleicht nicht in der Lage, Victor Constant ihren Brief auf den Square Gambetta zu bringen. Falls das Konzert aufgrund des wolkenbruchartigen Regens nicht ohnehin gänzlich abgesagt worden war. Die Einsicht, dass sie unmöglich in Erfahrung bringen konnte, ob Monsieur Constant ihre Nachricht erhalten hatte oder nicht, machte sie ratlos und enttäuschte sie zutiefst.
Es sei denn, er entschließt sich, mir zu schreiben.
Sie seufzte und entfaltete ihre Serviette. »Ist mein Bruder schon unten gewesen, Marieta?«
»Nein, Madomaisèla. Sie sind die Erste.«
»Und meine Tante? Geht es ihr schon wieder besser?«
Marieta zögerte und senkte dann die Stimme, als würde sie ihr ein großes Geheimnis anvertrauen. »Wissen Sie das denn nicht, Madomaisèla? Madama ging es gestern Nacht so schlecht, dass Sénher Anatole den Arzt aus der Stadt kommen lassen musste.«
»Was?«, keuchte Léonie. Sie stand auf. »Ich hatte keine Ahnung. Ich muss zu ihr.«
»Es wäre besser, sie ruhen zu lassen«, sagte Marieta rasch. »Vor nicht ganz dreißig Minuten hat Madama ganz friedlich geschlafen.«
Léonie nahm wieder Platz. »Und was hat der Arzt gesagt?«, wollte sie wissen. »Dr. Gabignaud nehme ich an?«
Marieta nickte. »Dass Madama sich eine Erkältung zugezogen hat, die sich zu verschlimmern drohte. Er hat ihr ein Pulver verabreicht, um das Fieber zu senken. Er war die ganze Nacht bei ihr, wie auch Ihr Bruder.«
»Wie lautet seine Diagnose jetzt?«
»Da müssen Sie Sénher Anatole fragen, Madomaisèla. Der Arzt hat unter vier Augen mit ihm gesprochen.«
Léonie war furchtbar zumute. Sie hatte Schuldgefühle wegen der lieblosen Gedanken, die sie zuvor gehabt hatte, und weil sie die ganze Nacht selig durchgeschlafen hatte, ohne die geringste Ahnung von der Krise, zu der es anderswo im Haus gekommen war, gehabt zu haben. Ihr Magen verkrampfte sich und fühlte sich an wie ein verdrehtes und verformtes Knäuel. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch nur den kleinsten Bissen herunterbekommen würde.
Aber als Marieta zurückkehrte und ihr einen Teller mit gepökeltem Bergschinken, frischen Eiern von den hauseigenen Hühnern und warmes Weißbrot mit selbstgemachter Butter hinstellte, glaubte sie doch, ein klein wenig essen zu können.
Das Haus war still, während sie aß, und ihre Gedanken sprangen hin und her, überschlugen sich zappelnd wie ein Fisch auf dem Trockenen, zuerst voller Sorge um Isolde, dann freudiger, wenn sie an Monsieur Constant dachte, und kehrten dann wieder zu ihrer Tante zurück.
Sie hörte Schritte in der Halle, warf ihre Serviette auf den Tisch, sprang auf und lief zur Tür, durch die in diesem Augenblick Anatole trat.
Er war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen, wie schwarze Fingerabdrücke, die verrieten, dass er nicht geschlafen hatte.
»Verzeih mir, Anatole, ich habe es gerade erst erfahren. Marieta meinte, es wäre besser, Tante Isolde schlafen zu lassen, als sie zu stören. Kommt der Arzt heute Morgen wieder? Ist …«
Trotz seines mitgenommenen Aussehens lächelte Anatole. Er hob eine Hand, als wollte er ihre Frageflut abwehren.
»Beruhige dich«, sagte er und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Das Schlimmste ist überstanden.«
»Aber …«
»Isolde wird wieder gesund. Gabignaud war hervorragend. Er hat ihr etwas gegeben, damit sie schlafen kann. Sie ist schwach, hat aber kein Fieber mehr. Ein paar Tage Bettruhe, und sie ist wieder die Alte.«
Léonie war selbst überrascht, als sie plötzlich in Tränen ausbrach. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie ihre ruhige, sanfte Tante ins Herz geschlossen hatte.
»Na, na,
petite«,
sagte er liebevoll. »Nicht weinen. Alles wird gut. Du musst dich nicht so aufregen.«
»Lass uns nie wieder streiten«, wimmerte Léonie. »Ich ertrage es nicht, wenn wir keine Freunde sind.«
»Ich auch nicht«, sagte er, zog sein Taschentuch heraus und reichte es ihr. Léonie wischte sich über das tränennasse Gesicht und putzte sich dann kräftig die Nase.
»Wie überaus undamenhaft!«, sagte er lachend. »M’man wäre äußerst unzufrieden mit dir.« Er grinste zu ihr herab. »So, hast du schon gefrühstückt?«
Léonie nickte.
»Na, ich aber nicht. Leistest du mir Gesellschaft?«
Den Rest des Tages wich Léonie
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