Die achte Karte
Hand promenierte sie die Gran’Rue hinunter, begleitet von Pascal, der ihre zahlreichen Einkäufe trug, die sie in den Magasins Bousquet, der Pâtisserie und Chocolaterie Les Frères Marcel und in dem Kurzwarenladen tätigte, wo sie Garn und Faden gekauft hatte. In dem Straßencafé neben der Maison Gravère, wo sie und Anatole bei ihrem ersten Besuch in der Stadt Kaffee getrunken hatten, gönnte sie sich ein Glas
sirop de grenadine,
und sie fühlte sich richtig heimisch.
Tatsächlich hatte Léonie das Gefühl, als gehöre sie zu dieser Stadt und diese Stadt zu ihr. Und obwohl ein oder zwei flüchtige Bekannte ihr im Vorbeigehen ein wenig unterkühlt begegneten, so ihr Eindruck – die Frauen wandten den Blick ab, und die Ehemänner lüfteten kaum den Hut –, verwarf Léonie den Gedanken, sie könnte ihnen Anlass zum Anstoß geboten haben. Obwohl Pariserin mit Leib und Seele, war sie inzwischen aus ganzem Herzen überzeugt, dass sie sich in der bergigen und seenreichen Waldlandschaft des Aude lebendiger und vitaler fühlte als je zuvor in der Stadt.
Jetzt dachte sie mit Entsetzen an die schmutzigen Straßen und die verrußte Luft im 8 . Arrondissement, von den Einschränkungen ihrer Freiheit dort ganz zu schweigen. Wenn Anatole ihre Mutter davon überzeugen konnte, zu Weihnachten herzukommen, dann würde Léonie liebend gern bis Neujahr und auch noch länger auf der Domaine de la Cade bleiben, keine Frage.
Es dauerte nicht lange, bis sie alle Besorgungen erledigt hatte. Um elf Uhr musste sie nur noch Pascal eine Weile abschütteln, um ihren Abstecher zum Postamt machen zu können. Sie bat ihn, die Pakete zurück zum Gig zu tragen, die sie in der Obhut eines seiner zahlreichen Neffen bei der Tränke ein wenig südlich vom Hauptplatz zurückgelassen hatten. Dann erklärte sie ihm, sie wolle Monsieur Baillard ihre Aufwartung machen.
Pascals Miene verhärtete sich. »Ich wusste gar nicht, dass er schon wieder in Rennes-les-Bains ist, Madomaisèla Léonie«, sagte er.
Ihre Blicke trafen sich. »Ich weiß es auch nicht mit Sicherheit«, räumte sie ein. »Aber es ist ja nur ein kurzer Fußweg. Ich treffe dich dann am Place du Pérou.«
Während sie sprach, fiel Léonie plötzlich ein, wie sie sich eine Gelegenheit verschaffen konnte, den Brief ungestört zu lesen. »Weißt du was, Pascal«, fügte sie rasch hinzu, »du kannst schon mal zurückfahren. Ich denke, ich werde zu Fuß zur Domaine de la Cade zurückgehen. Du brauchst nicht zu warten.«
Pascal wurde rot. »Ich bin sicher, Sénher Anatole würde nicht wollen, dass ich Sie den Heimweg zu Fuß machen lasse«, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran ließ, dass er wusste, wie ihr Bruder Marieta ausgeschimpft hatte, weil sie Léonie in Carcassonne unbeaufsichtigt gelassen hatte.
»Mein Bruder hat dir doch keine Anweisung gegeben, mir nicht von der Seite zu weichen, oder?«, entgegnete sie sogleich.
Pascal musste zugeben, dass er keine solche Anweisung erhalten hatte.
»Also bitte. Der Pfad durch den Wald ist mir bekannt«, sagte sie bestimmt. »Wie du weißt, hat Marieta uns durch das hintere Tor zur Domaine de la Cade geführt, daher gehe ich den Weg nicht zum ersten Mal. Es ist so ein schöner Tag, vielleicht der letzte Sonnentag in diesem Jahr, und ich bin sicher, meinem Bruder ist es nur lieb, wenn ich die gute Luft auskoste.«
Pascal rührte sich nicht.
»Das wäre alles«, sagte Léonie schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
Er starrte sie noch einen Moment länger an, mit einer unergründlichen Miene in seinem breiten Gesicht, bis er plötzlich grinste. »Wie Sie wünschen, Madomaisèla Léonie«, sagte er mit seiner bedächtigen ruhigen Stimme, »aber Sie werden sich gegenüber Sénher Anatole verantworten, nicht ich.«
»Ich werde ihm sagen, ich habe darauf bestanden, dass du mich allein gehen lässt, ja.«
»Und mit Ihrer Erlaubnis werde ich Marieta bitten, das Tor aufzuschließen und Ihnen auf halber Strecke entgegenzukommen. Damit Sie sich nicht doch verlaufen.«
Léonie fühlte sich beschämt, sowohl durch Pascals Gutmütigkeit angesichts ihrer Gereiztheit als auch durch seine Sorge um ihr Wohlergehen. Denn trotz ihres beherzten Auftretens machte ihr die Vorstellung, den ganzen Weg allein durch den Wald zu gehen, in Wahrheit ein wenig Angst.
»Danke, Pascal«, sagte sie besänftigt. »Ich verspreche, ich werde mich sputen. Meine Tante und mein Bruder werden gar nichts merken.«
Er nickte, dann machte er mit den
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