Die achte Karte
weiterzuverfolgen.
Der Gedanke, dass er nicht wissen würde, wo er sie finden konnte – oder aber schlecht von ihr denken würde, weil sie so unhöflich gewesen war, ihre heimliche Verabredung nicht einzuhalten –, ließ ihr keine Ruhe.
Kapitel 70
∞
E ine Chance bot sich ihr drei Tage später.
Am Mittwochabend hatte Isolde sich so weit erholt, dass sie wieder gemeinsam mit Anatole und Léonie im Speisesaal dinierte. Sie aß wenig. Oder, besser gesagt, sie kostete etliche Gerichte, doch keines schien ihr zu schmecken. Selbst der Kaffee aus den frisch gemahlenen Bohnen, die Léonie für sie in Carcassonne erstanden hatte, war nicht nach ihrem Geschmack.
Anatole kümmerte sich rührend um sie, schlug unentwegt andere Leckereien vor, um ihren Appetit anzuregen, doch am Ende ließ sie sich nur zu einem Stück Weißbrot mit Butter überreden, dazu ein wenig
chèvre trois jours
und Honig.
»Irgendeinen besonderen Wunsch? Was es auch ist, ich schaffe es herbei.«
Isolde lächelte. »Es schmeckt alles irgendwie eigenartig.«
»Sie müssen essen«, sagte er beschwörend. »Sie müssen wieder zu Kräften kommen, auch für …«
Er hielt abrupt inne. Léonie bemerkte den Blick, den die beiden wechselten, und fragte sich wieder einmal, was er wohl hatte sagen wollen.
»Ich könnte morgen nach Rennes-les-Bains hinunterfahren und besorgen, was Sie möchten«, fuhr er fort.
Plötzlich hatte Léonie eine Idee. »Ich könnte doch fahren«, sagte sie mit einem möglichst unbeschwerten Unterton. »Dann müsstest du dich nicht hier losreißen, Anatole, und ich hätte ein wenig Abwechslung in der Stadt.« Sie sah Isolde an. »Ich kenne Ihren Geschmack ganz gut, Tante. Falls das Gig am Morgen nicht gebraucht wird, könnte Pascal mich fahren.« Sie hielt inne. »Ich könnte in den Magasins Bousquet eine Dose kandierten Ingwer kaufen.«
Zu ihrem Entzücken sah Léonie Interesse in Isoldes blassgrauen Augen aufglimmen.
»Ich muss gestehen, das würde mir zusagen«, räumte sie ein.
»Und vielleicht«, fügte Léonie hinzu, nachdem sie im Geist rasch Isoldes Lieblingsleckereien durchgegangen war, »könnte ich beim
pâtissier
vorbeischauen und eine Schachtel Jésuites besorgen?«
Léonie verabscheute die widerlich süßen Blätterteigtaschen, wusste aber, dass Isolde gelegentlich der Versuchung nachgab, sich eine zu gönnen.
»Die sind im Moment wohl ein wenig zu schwer für mich«, lächelte Isolde, »aber gegen ein paar Pfefferkekse wäre doch sicherlich nichts einzuwenden.«
Anatole lächelte sie an und nickte.
»Also gut«, sagte er. »Abgemacht.« Er bedeckte Léonies kleine Hand mit seiner. »Ich begleite dich gern,
petite,
wenn du möchtest.«
»Aber nein. So wird es ein kleines Abenteuer für mich. Ich bin sicher, du hast hier reichlich zu tun.«
Er blickte kurz zu Isolde hinüber. »Stimmt«, bestätigte er. »Schön, wenn du dir wirklich sicher bist, Léonie.«
»Vollkommen sicher«, sagte sie munter. »Ich werde um zehn Uhr aufbrechen, damit ich rechtzeitig zum Mittagessen zurück bin. Ich mache eine Einkaufsliste.«
»Es ist lieb von Ihnen, sich solche Mühe zu machen«, sagte Isolde.
»Das tu ich doch gern«, erwiderte Léonie wahrheitsgemäß.
Sie hatte es geschafft. Falls es ihr gelang, irgendwann im Laufe des Vormittags zum Postamt zu entwischen, ohne dass Pascal es merkte, hätte ihre quälende Ungewissheit, welche Absichten Monsieur Constant ihr gegenüber hegte, endlich ein Ende, so oder so.
Als Léonie am Abend zu Bett ging, träumte sie davon, wie es sich anfühlen würde, seinen Brief in Händen zu halten. Was mochte wohl in einem solchen Billet-Doux stehen, welche Gefühle mochten darin in Worte gefasst sein?
Ja, als sie endlich einschlief, hatte sie im Geist bereits hundertmal eine wunderschöne Antwort auf Monsieur Constants – imaginierte – elegant formulierte Beteuerungen von Liebe und Wertschätzung aufgesetzt.
Der Morgen des 29 . Oktober, ein Donnerstag, war herrlich.
Die Domaine de la Cade war in weiches rötliches Licht getaucht, und darüber spannte sich ein endloser blauer Himmel, der hier und dort mit weißen Schäfchenwolken betupft war. Und es war mild. Das schlechte Wetter war weitergezogen und hatte Platz geschaffen für die Erinnerung an den Duft linder Sommertage.
Um Viertel nach zehn stieg Léonie, die extra ihr karmesinrotes Lieblingskleid mit passender Jacke und Hut angezogen hatte, auf dem Place du Pérou aus der Kutsche. Mit der Einkaufsliste in der
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