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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Grabkapelle. Es herrschte Totenstille. Nichts war zu hören außer der Widerhall ihrer Schritte. Und doch begann die Luft nach und nach zu flüstern. Sie konnte Stimmen hören, Geräusche im Dunkeln. Oder doch Stimmen hinter der Stille. Und Gesang.
    Sie ging weiter und spürte, wie die Luft sich zerteilte, als würden unsichtbare Geister, im Licht entschwunden, beiseitetreten, um sie vorbeizulassen. Der Raum selbst schien den Atem anzuhalten, im gleichen Takt zu schlagen wie der wuchtige Rhythmus ihres Herzens.
    Schließlich blieb sie vor dem Altar stehen, genau in der Mitte der vier Fenster in der oktogonalen Wand. Sie stand jetzt innerhalb eines Quadrats, das in Schwarz auf den Steinboden aufgezeichnet war. Ringsherum waren Buchstaben in den Boden eingraviert.
    Hilf mir.
    Irgendwer war hier. Da bewegte sich etwas, in der Dunkelheit, in der Stille, Meredith spürte, wie der Raum um sie herum schrumpfte, in sich zusammenfiel. Sie konnte nichts sehen, und dennoch wusste sie, dass sie da war. Eine lebende, atmende Präsenz im Gefüge der Luft. Und sie wusste, dass sie es davor schon einmal gesehen hatte – unter der Brücke, auf der Landstraße, am Fuße ihres Bettes. Luft, Wasser, Feuer und nun Erde. Die vier Farben des Tarot, die in sich alle Möglichkeiten bargen.
    Höre mich. Hör mir zu.
    Meredith spürte, wie sie fiel, hinein in einen Raum voller Stille und Frieden. Sie hatte keine Angst. Sie war nicht länger sie selbst, sondern stand stattdessen außerhalb und schaute hinein. Und ganz deutlich hörte sie jetzt in dem Raum ihre eigene schlafende Stimme.
    »Léonie?«
    Auf einmal meinte Meredith, in der Dunkelheit, die die Gestalt umhüllte, eine Veränderung wahrzunehmen, eine Bewegung in der Luft, beinahe wie ein Windhauch. Am Fuße des Bettes bewegte die Gestalt fast unmerklich den Kopf. Lange kupferrote Locken, Farbe ohne Substanz, enthüllt, die Kapuze von ihrem Haar gleitend. Durchscheinende Haut. Grüne Augen, wenn auch transparent. Form ohne Substanz. Ein langes schwarzes Kleid unter dem Umhang. Gestalt ohne Form.
    Ich bin Léonie.
    Meredith hörte die Worte in ihrem Kopf. Die Stimme einer jungen Frau, eine Stimme aus einer früheren Zeit. Wieder veränderte sich die Atmosphäre im Raum. Als gäbe der Raum selbst einen Seufzer der Erleichterung von sich.
    Ich kann nicht schlafen. Bis ich gefunden werde, kann ich niemals schlafen. Höre die Wahrheit.
    »Die Wahrheit? Was für eine Wahrheit?«, flüsterte Meredith. Das Licht veränderte sich, verlor sich.
    Die Geschichte liegt in den Karten.
    Die Luft flackerte, Licht brach sich, ein Schimmer, als würde sich irgendetwas – irgendwer – zurückziehen. Und wieder wurde die Atmosphäre anders. In der Dunkelheit lag eine Bedrohung, die von Léonie gebannt worden war. Aber die sanfte Präsenz des Geistes war verschwunden, ersetzt durch etwas Zerstörerisches. Bösartigkeit. Eine beklemmende Kälte hüllte Meredith ein. Wie Nebel frühmorgens am Meer, der scharfe Geruch nach Salz und Fisch und Rauch. Sie war wieder in der Grabkapelle. Sie empfand das Bedürfnis, wegzulaufen, obwohl sie nicht wusste, wovor. Sie spürte, wie sie sich der Tür näherte.
    Hinter ihr war etwas. Eine schwarze Gestalt oder irgendein Wesen. Meredith konnte seinen Atem förmlich im Nacken spüren, weiße Wölkchen in der eisigen Luft. Aber das steinerne Mittelschiff schrumpfte. Die Holztür wurde kleiner und rückte weiter in die Ferne.
    Un, deux, trois, loup! Mir entkommt keiner.
    Etwas schnappte nach ihren Fersen, wurde im Dunklen schneller, bereit zum Sprung. Meredith rannte los, die Angst verlieh ihren zitternden Beinen Kraft. Ihre Turnschuhe rutschten, schlitterten über die Steinplatten. Immer hinter ihr, der Atem.
    Fast da.
    Sie warf sich gegen die Tür, spürte, wie sie mit der Schulter gegen den Rahmen krachte, und Schmerz jagte ihr den Arm hinab. Das Wesen war direkt hinter ihr, sein borstiges Fell, der Geruch von Eisen und Blut verschmolz mit ihrer Haut, mit der Oberfläche ihres Kopfes und den Sohlen ihrer Füße. Sie fummelte an dem Riegel, rüttelte, zog mit aller Kraft, doch er wollte sich nicht öffnen.
    Sie hämmerte gegen die Tür, zwang sich, nicht über die Schulter zu schauen, um ja nicht in den Bann seiner blauen, grässlichen Augen zu geraten. Sie spürte, wie die Stille um sie herum tiefer wurde. Spürte, wie sich seine bösartigen Arme um ihren Hals legten, nass und kalt und brutal. Der Geruch des Meeres, der sie hinabzog in seine tödlichen

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