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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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altes zügelloses Leben führte. Er schickte seine sanfte Frau und seine kleine Tochter auf die Domaine de la Cade und besuchte sie nur, wenn ihm mal danach war. Der gequälte Ausdruck, den Marguerites Gesicht die seltenen Male annahm, die ihre Kindheit zur Sprache kam, verriet Léonie, dass ihre Mutter alles andere als glücklich gewesen war.
    Grandpère Lascombe und seine Frau waren eines Abends ums Leben gekommen, als ihre Kutsche sich überschlagen hatte. Bei der Verlesung des Testaments stellte sich heraus, dass Guy sein gesamtes Vermögen Jules hinterlassen hatte, seiner Tochter dagegen keinen einzigen Sou. Marguerite flüchtete sich auf der Stelle in den Norden, nach Paris, wo sie im Februar 1865  Leo Vernier kennenlernte und heiratete, einen radikalen Idealisten. Da Jules ein Anhänger des Ancien Régime war, hatten die Halbgeschwister von da an keinerlei Kontakt mehr miteinander.
    Leonie seufzte. »Ja, aber warum schreibt sie Ihnen dann wieder?«, erkundigte sie sich.
    Marguerite betrachtete den Brief, als könne sie dessen Inhalt noch immer nicht fassen.
    »Es ist eine Einladung an dich, Léonie, sie zu besuchen. Sogar für vier Wochen.«
    »Was?«, schrie Léonie und hätte ihrer Mutter den Brief beinahe aus den Fingern gerissen. »Wann?«
    »
Chérie,
bitte.«
    Léonie hörte sie gar nicht. »Erklärt Tante Isolde, warum sie ausgerechnet jetzt so eine Einladung ausspricht?«
    Anatole zündete sich eine Zigarette an. »Vielleicht als Wiedergutmachung für den mangelnden Familiensinn ihres verstorbenen Gatten.«
    »Möglich«, sagte Marguerite, »allerdings deutet nichts in dem Brief auf eine solche Absicht hin.«
    Anatole lachte. »So etwas würde man ja wohl kaum zu Papier bringen.«
    Léonie verschränkte die Arme. »Na, der Gedanke ist jedenfalls ziemlich abwegig, dass ich eine Einladung zu einem Besuch bei einer Tante annehmen würde, der ich noch nie begegnet bin, und schon gar nicht für so lange Zeit. Ehrlich gesagt«, fügte sie hitzig hinzu, »kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als irgendwo auf dem Lande bei einer verknöcherten Witwe zu hocken, die von der guten alten Zeit schwärmt.«
    »O nein, Isolde ist noch jung«, sagte Marguerite. »Jules war deutlich älter, sie wird jetzt so um die dreißig sein, glaube ich.«
    Für einen Moment senkte sich Stille über den Frühstückstisch.
    »Wie auch immer, ich werde die Einladung auf jeden Fall ablehnen«, sagte Léonie schließlich.
    Marguerite sah ihren Sohn über den Tisch hinweg an. »Anatole, was würdest du raten?«
    »Ich will nicht dahin«, sagte Léonie mit noch mehr Nachdruck.
    Anatole lächelte. »Überleg doch, Léonie, eine Reise in die Berge? Das klingt doch schön. Erst letzte Woche hast du mir erzählt, wie sehr dich das Stadtleben anödet und dass du dringend Erholung brauchst.«
    Léonie betrachtete ihn erstaunt. »Ja, das habe ich, aber …«
    »Die Abwechslung würde dir guttun. Außerdem ist das Wetter in Paris unerträglich. Mal stürmisch und nass und dann wieder so heiß wie in der algerischen Wüste.«
    »Das stimmt, aber …«
    »Und du hast mir erzählt, wie gern du ein Abenteuer erleben würdest, aber wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, bist du zu ängstlich, sie zu ergreifen.«
    »Aber vielleicht ist Tante Isolde schrecklich unangenehm. Und wie soll ich mir auf dem Land die Zeit vertreiben? Da gibt es nichts für mich zu tun.« Léonie warf ihrer Mutter einen herausfordernden Blick zu. »M’man, Sie sprechen immer nur mit Widerwillen von der Domaine de la Cade.«
    »Das ist lange her«, sagte Marguerite leise. »Es kann sich einiges geändert haben.«
    Léonie schlug eine andere Taktik ein.
    »Aber die Reise dauert mehrere Tage. Ich kann unmöglich so weit reisen. Nicht ohne Begleitung.«
    Marguerite sah ihre Tochter ruhig an. »Nein, nein … natürlich nicht. Aber wie es der Zufall will, hat General Du Pont gerade gestern Abend vorgeschlagen, mit mir für ein paar Wochen ins Marne-Tal zu reisen. Wenn ich seine Einladung annehmen könnte …« Sie brach ab und wandte sich an ihren Sohn. »Anatole, könnte ich dich dazu bewegen, Léonie in den Midi zu begleiten?«
    »Ich bin sicher, dass ich ein paar Tage erübrigen könnte.«
    »Aber M’man«, wandte Léonie ein.
    Ihr Bruder sprach über sie hinweg. »Tatsächlich habe ich erst vorhin gesagt, ich würde überlegen, für ein paar Tage aufs Land zu fahren. Auf diese Weise könnten wir zur allseitigen Zufriedenheit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

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