Die achte Karte
Croupier. Er wollte mich betrügen, das wusste ich, und ich beging den Fehler, mich beim Geschäftsführer zu beschweren.«
»Und?«
»Und«, seufzte er, »um es kurz zu machen, ich wurde vor die Tür gesetzt. Ich war noch keine fünfhundert Meter gegangen, als mich zwei Schläger überfielen.«
»Dir vom Klub hinterhergeschickt?«
»Ich vermute, ja.«
Sie starrte ihn an und hatte auf einmal den Verdacht, dass hinter dem Ganzen mehr steckte, als Anatole zugab. »Hast du dort Schulden?«
»Ein paar, aber …« Er zuckte die Achseln, und wieder huschte so etwas wie Unbehagen über sein Gesicht. »Es gibt mir zu denken, nach allem, was in diesem Jahr so geschehen ist, jetzt das noch. Ich überlege, ob es nicht ratsam wäre, wenn ich mich eine Woche oder so rarmache«, fügte er hinzu. »Paris verlasse, bis sich alles wieder beruhigt hat.«
Léonie schaute bekümmert. »Aber ich fände es schrecklich, wenn du fort wärst. Außerdem, wo willst du hin?«
Anatole stützte die Ellbogen auf und senkte die Stimme. »Ich habe da so eine Idee,
petite,
aber dafür brauche ich deine Hilfe.«
Der Gedanke, dass Anatole fortgehen könnte, und wenn auch nur für ein paar Tage, war nicht zu ertragen. Allein mit ihrer Mutter und dem langweiligen Du Pont in der Wohnung zu sein. Sie goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und fügte drei Teelöffel Zucker hinzu.
Anatole berührte ihren Arm. »Hilfst du mir?«
»Natürlich, alles, was du willst, aber ich …«
In dem Augenblick erschien ihre Mutter wieder in der Tür. Anatole wich zurück und legte einen Finger an die Lippen. Marguerite hielt sowohl den Umschlag als auch den Brief in der Hand. Ihre rosalackierten Nägel leuchteten hell vor dem Beige des Briefpapiers.
Léonie wurde rot.
»
Chérie,
lauf bitte nicht so rot an«, sagte Marguerite auf dem Weg zum Tisch. »Das ist ja schon fast peinlich. Du siehst aus wie eine Verkäuferin.«
»Verzeihung, M’man«, entgegnete Léonie, »aber Anatole und ich waren besorgt, dass Sie vielleicht … schlechte Nachrichten erhalten haben.«
Marguerite sagte nichts, schaute bloß weiter gebannt auf das Schreiben.
»Von wem ist der Brief?«, fragte Léonie schließlich, als ihre Mutter noch immer keine Anstalten machte, zu antworten. Im Gegenteil, sie schien vergessen zu haben, dass sie nicht allein war.
»M’man?«, sagte Anatole. »Kann ich Ihnen etwas holen? Ist Ihnen nicht gut?«
Ihre großen braunen Augen blickten auf. »Nein danke,
chéri.
Ich bin nur überrascht, mehr nicht.«
Léonie seufzte. »Von – wem – ist – der – Brief?«, wiederholte sie gereizt, betonte jedes Wort, als würde sie mit einem besonders begriffsstutzigen Kind sprechen.
Endlich fand Marguerite die Fassung wieder. »Der Brief kommt von der Domaine de la Cade«, sagte sie leise. »Von eurer Tante Isolde. Der Witwe meines Halbbruders Jules.«
»Was?«, rief Léonie. »Der Onkel, der im Januar gestorben ist?«
»Verschieden,
disparu.
›Gestorben‹ ist so vulgär«, verbesserte ihre Mutter sie, obwohl Léonie hörte, dass der Tadel halbherzig war. »Aber ja, in der Tat, genau der.«
»Wieso schreibt sie Ihnen nach so langer Zeit?«
»Oh, sie hat schon bei früheren Anlässen geschrieben«, erwiderte Marguerite. »Einmal aus Anlass ihrer Hochzeit, das nächste Mal dann, um mich von Jules’ Tod zu unterrichten und mir Ort und Zeit der Beerdigung mitzuteilen.« Sie stockte. »Zu meinem Bedauern konnte ich wegen meines schlechten Gesundheitszustands die Reise nicht antreten, schon gar nicht zu der Jahreszeit.«
Léonie wusste genau, dass ihre Mutter niemals wieder einen Fuß in das Haus außerhalb von Rennes-les-Bains, wo sie aufgewachsen war, gesetzt hätte, ungeachtet der Jahreszeiten und Umstände. Marguerite und ihr Halbbruder hatten sich nicht nahegestanden.
Von Anatole hatte Léonie die wesentlichen Punkte der Geschichte erfahren. Marguerites Vater Guy Lascombe hatte jung und übereilt geheiratet. Als seine erste Frau rund sechs Monate später bei Jules’ Geburt starb, gab Lascombe seinen Sohn kurzerhand in die Obhut einer Gouvernante und später einer Reihe von Hauslehrern und kehrte selbst nach Paris zurück. Er zahlte für die Erziehung seines Sohnes und die Instandhaltung des Familiensitzes, und als Jules volljährig wurde, setzte er eine jährliche Zuwendung für ihn fest, kümmerte sich ansonsten aber ebenso wenig um ihn wie zuvor.
Erst im fortgeschrittenen Alter heiratete Grandpère Lascombe erneut, obwohl er weiter sein
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