Die achte Karte
reckte die langen schlanken Arme über den Kopf und rollte den Hals in den Nacken. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so müde gewesen war.
Meredith hatte um zwölf Uhr aus ihrem Hotel in London ausgecheckt und in einem Café in der Nähe der Wigmore Hall zu Mittag gegessen, bevor sie sich ein – ausgesprochen ödes – Nachmittagskonzert angehört hatte. In der Waterloo Station hatte sie sich noch rasch ein Sandwich gekauft und war schließlich verschwitzt und erschöpft in den Zug gestiegen.
Um dann doch noch verspätet abzufahren. Als es dann endlich losging, hatte sie den ersten Teil der Fahrt nur träge aus dem Fenster gestarrt und zugesehen, wie die grüne englische Landschaft vorbeisauste, anstatt ihre Notizen in den Computer zu tippen. Dann tauchte der Zug unter den Kanal und wurde von den Betonwänden des Tunnels verschluckt. Die Atmosphäre wurde bedrückend, aber immerhin hatte das Handygeplapper ein Ende. Dreißig Minuten später tauchten sie auf der anderen Seite in der flachen braunen Landschaft Nordfrankreichs wieder auf.
Bauernhäuser, vorbeifliegende Örtchen und lange gerade Landstraßen, die aussahen, als führten sie ins Nirgendwo. Hier und da ein paar Ortschaften, die Schlackehalden mit der Zeit grün überwuchert. Dann der Flughafen Charles de Gaulle und die Vorstädte,
la banlieue,
die düsteren trostlosen Hochhäuser des sozialen Wohnungsbaus, die stumm an der Peripherie der französischen Hauptstadt aufragten.
Meredith lehnte sich zurück und ließ die Gedanken schweifen. Sie befand sich auf einer vierwöchigen Reise durch England und Frankreich, um für ihre Biographie über den französischen Komponisten aus dem neunzehnten Jahrhundert, Achille-Claude Debussy, und seine Frauen zu recherchieren.
Nach zwei recht fruchtlosen Jahren der Forschung und Planung hatte sie endlich Glück gehabt. Vor sechs Monaten hatte ihr ein junger wissenschaftlicher Verlag ein bescheidenes Angebot für das Buch gemacht. Der Vorschuss war zwar nicht berauschend, aber doch recht passabel dafür, dass sie im Bereich der Musikkritik ein unbeschriebenes Blatt war. Jedenfalls reichte er aus, um ihren Traum von einer Europareise wahr werden zu lassen. Sie war fest entschlossen, nicht bloß ein weiteres Buch über Debussy zu schreiben, sondern
das
Buch,
die
Biographie.
Der zweite Glücksfall war das Angebot einer halben Stelle als Dozentin an einem Privatcollege bei Raleigh Durham, die sie im kommenden Sommersemester antreten würde. Der Vorteil daran war, dass sie es von dort nicht weit bis zu ihren Adoptiveltern hatte, die inzwischen ganz in der Nähe wohnten – womit sie Geld für Waschsalon, Telefon und Lebensmittel sparen konnte –, und auch ihre Alma Mater, die University of North Carolina, nur einen Katzensprung entfernt lag.
Nach zehn Jahren Collegeausbildung, die Meredith selbst finanziert hatte, war ihr Schuldenberg groß und das Geld knapp. Aber mit dem, was sie als Klavierlehrerin verdient hatte, dem Vorschuss vom Verlag und nun der Aussicht auf ein regelmäßiges Gehalt hatte sie den Mut gefunden, sich aufzuraffen, und den Flug nach Europa gebucht.
Das Manuskript sollte Ende April im Verlag sein. Im Augenblick war sie gut in der Zeit. Sogar mehr als gut. Sie hatte zehn Tage in London verbracht. Jetzt lagen noch fast zwei Wochen Frankreich vor ihr, hauptsächlich Paris, aber sie hatte auch eine Kurzreise in eine kleine Stadt im Südwesten eingeplant, Rennes-les-Bains. Daher die zwei Tage im Domaine de la Cade.
Der offizielle Grund für den Abstecher war, dass sie einem Hinweis zu Debussys erster Frau Lilly nachgehen wollte, bevor sie nach Paris zurückkehrte. Aber wenn es nur um eine Spur der ersten Madame Debussy gegangen wäre, hätte sie sich nicht so viel Mühe gemacht. Es war ein interessantes Puzzleteilchen in ihrer Recherche, zugegeben, aber ihre Anhaltspunkte waren recht dürftig und für das Buch als solches kaum von Belang. Nein, ihr wahres Motiv für den Besuch in Rennes-les-Bains war persönlicher Natur.
Meredith griff in das Innenfach ihrer Handtasche und holte einen Umschlag mit der Aufschrift NICHT KNICKEN hervor, dem sie ein paar alte abgegriffene Sepiafotos mit Eselsohren und ein Notenblatt für Klavier entnahm. Sie betrachtete, wie schon so oft, die inzwischen vertrauten Gesichter, ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf das Musikstück richtete. Die Melodie in a-Moll, mit der Hand auf gelbes Notenpapier geschrieben, war einfach und in einem gängigen Takt gehalten.
Weitere Kostenlose Bücher