Die achte Karte
kennen.«
»Allerdings«, bestätigte Thouron. »Sein Name tauchte immer wieder im Zuge der Ermittlungen auf, doch die Beweise haben nie ausgereicht, um ihn mit dem Verbrechen in Verbindung zu bringen. Er scheint einen Rachefeldzug gegen Monsieur Vernier geführt zu haben, schlau und durchtrieben, bis er in den letzten Wochen unvorsichtiger wurde.«
»Oder arroganter«, warf Bouchou ein. »Es gab einen Vorfall in einem … einem Etablissement im Viertel Barbès in Carcassonne, dabei wurde eine junge Frau schlimm entstellt.«
»Wir glauben, sein immer riskanteres Verhalten ist zum Teil auch auf das aggressive Fortschreiten seiner … Krankheit zurückzuführen. Sie greift allmählich sein Gehirn an.« Thouron sprach nicht weiter, sondern formte lautlos mit den Lippen das Wort, damit Léonie es nicht hörte. »Syphilis.«
Baillard kam um die Chaiselongue herum und setzte sich neben Léonie.
»Erzählen Sie Inspecteur Thouron, was Sie wissen«, sagte er und nahm ihre Hand.
Léonie hob das Glas an die Lippen und trank einen Schluck. Der Alkohol brannte ihr in der Kehle, aber er vertrieb auch den säuerlichen Geschmack in ihrem Mund.
Warum jetzt noch etwas verheimlichen?
Sie begann zu reden, verschwieg nichts, erzählte in allen Einzelheiten, was geschehen war – von der Beerdigung auf dem Montmartre und dem Überfall in der Passage des Panoramas bis hin zu dem Moment, wo sie und ihr geliebter Anatole auf dem Place du Pérou aus dem
courrier publique
gestiegen waren, und den blutigen Ereignissen dieses Abends im Wald der Domaine de la Cade.
März, September, Oktober.
Im ersten Stock wurde Isolde noch immer von dem Nervenfieber geschüttelt, das sie in dem Augenblick erfasst hatte, als sie Anatole fallen sah.
Bilder, Gedanken trieben ihr durch den Kopf und verschwanden wieder. Ihre halb geöffneten Augen flackerten. Einen flüchtigen, frohen Moment lang glaubte sie, in Anatoles Armen zu liegen und das sanfte Licht der Kerzen zu sehen, das sich in seinen braunen Augen spiegelte, doch dann verblasste die Vision. Die Haut löste sich von seinem Gesicht und offenbarte den Schädel darunter, hinterließ einen Totenkopf aus Knochen und Zähnen und schwarzen Löchern, wo einst die Augen gewesen waren.
Und unaufhörlich drangen flüsternde Stimmen, Constants boshafter, silbriger Tonfall in ihr überhitztes Gehirn. Sie spürte, wie sie sich auf dem Kissen hin und her warf, versuchte, den Klang aus dem Kopf zu bekommen, doch die Kakophonie wurde nur noch lauter. Was war die Stimme, was das Echo?
Sie träumte, sie sah ihren Sohn, der um den Vater weinte, den er nie gekannt hatte, wie durch eine Glasscheibe von Anatole getrennt.
Sie rief nach ihnen beiden, doch kein Laut drang über ihre Lippen, und sie hörten sie nicht. Als sie nach ihnen greifen wollte, zerbarst das Glas in Myriaden von Splitter, und sie berührte nur noch Haut, so kalt und unnachgiebig wie Marmor. Nur Statuen.
Erinnerungen, Träume, Vorahnungen. Ein Geist, haltlos aus seiner Verankerung gerissen.
Als die Uhr auf Mitternacht vorrückte, die Geisterstunde, pfiff und heulte der Wind los und rüttelte an den hölzernen Fensterläden des Hauses.
Eine ruhelose Nacht. Keine Nacht, um draußen zu sein.
[home]
Zehnter Teil
Der See
Oktober 2007
Kapitel 84
Mittwoch, 31 . Oktober 2007
A ls Meredith erneut erwachte, war Hal fort.
Sie legte die Hand auf die leere Stelle im Bett, wo er neben ihr geschlafen hatte. Das Laken war kalt, doch das Kissen duftete schwach nach ihm, und auch die Mulde, wo sein Kopf gelegen hatte, war noch zu sehen.
Die Fensterläden waren geschlossen, und der Raum lag in Dunkelheit. Meredith schaute auf den Wecker. Acht Uhr. Sie vermutete, dass Hal nicht von den Zimmermädchen gesehen werden wollte und in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt war. Sie legte eine Hand an die Wange, als bewahre ihre Haut die Erinnerung daran, wo seine Lippen sie zum Abschied geküsst hatten, selbst wenn sie es nicht mehr wusste.
Eine Weile blieb sie im warmen Bett liegen, dachte an Hal, dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, ihn neben sich zu spüren, in sich zu spüren, an die Gefühle, die sie letzte Nacht einfach hatte aus sich herausströmen lassen. Von Hal glitten ihre Gedanken zu Léonie, dem Mädchen mit dem kupferroten Haar, ihrer anderen nächtlichen Gefährtin.
Ich kann nicht schlafen.
Meredith erinnerte sich an die Worte aus ihrem Traum, gehört, obwohl nicht gesprochen. An das Gefühl des Mitleids, der Ruhelosigkeit,
Weitere Kostenlose Bücher