Die achte Karte
Gemeinschaft einschloss. In den Gaben der alten Frau war kein Trost zu finden, keine Poesie, nur ein unermesslicher und unsäglicher Verlust.
Madame Saint-Loup verstummte. Dann bedeutete sie dem Jungen, ihr aus ihrer Tasche eine große Schere zu reichen, und begann, Anatoles blutgetränkte Kleidung aufzuschneiden. Die Arbeit war mühsam und schwierig, da der Stoff nass und mit Erde und an den ausgefransten Wunden verklebt war.
»Madomaisèla?«
Sie überreichte Léonie zwei Umschläge aus Anatoles Brusttasche. Der eine Brief war von Constant, wie an dem glänzenden Papier und dem schwarzen Wappen zu erkennen war. Der zweite war in Paris abgestempelt und ungeöffnet. Beide hatten einen rostroten Rand, als wäre eine Bordüre auf das dicke Papier gemalt worden.
Léonie öffnete den zweiten Brief.
Es war ein förmliches und offizielles Schreiben von der Gendarmerie des 8 . Arrondissements, das Anatole von der Ermordung ihrer Mutter am Abend des 20 . September in Kenntnis setzte. Ein Tatverdächtiger war bislang nicht ermittelt worden. Der Brief trug die Unterschrift eines gewissen Inspektors Thouron und hatte Anatole erst nach Weiterleitung über etliche Adressen in Rennes-les-Bains erreicht.
Der Inspektor bat Anatole, sich baldmöglichst bei der Gendarmerie zu melden.
Léonie knüllte das Blatt in ihrer kalten Hand zusammen. Sie hatte die grausamen Worte, die Constant ihr auf der Lichtung entgegengeschleudert hatte, nicht eine Sekunde lang bezweifelt, doch erst jetzt, wo sie die offiziellen Worte schwarz auf weiß vor sich sah, wurde ihr die Wahrheit erst richtig bewusst. Ihre Mutter war tot. Und das schon seit über einem Monat.
Der Gedanke, dass ihre Mutter ohne die letzte Ehre einer Trauerfeier bestattet worden war, zerriss Léonie fast das gequälte Herz. Ohne Anatole lag es nun an ihr, sich um solche Dinge zu kümmern. Wer hätte es sonst tun sollen?
Madame Saint-Loup begann, den Leichnam zu reinigen, und wischte Anatoles Gesicht und Hände ab, mit einer Sanftheit, die Léonie zutiefst anrührte. Schließlich zog sie etliche Leinentücher heraus, alle schon vergilbt und kreuz und quer mit schwarzen Nähten in Schlaufenstich überzogen, als wären sie schon oft benutzt worden.
Léonie ertrug es nicht länger, zuzusehen.
»Ruft mich, wenn Abbé Saunière eintrifft«, sagte sie, ging aus dem Zimmer und überließ die Frau ihrer traurigen Arbeit, Anatole in sein Leichentuch einzunähen.
Langsam, als wären ihre Beine mit Blei beschwert, stieg Léonie die Treppe hinauf und begab sich in Isoldes Zimmer. Marieta war an der Seite ihrer Herrin. Ein Arzt, den Léonie noch nie gesehen hatte, war aus dem Dorf gekommen. Er trug einen schwarzen Zylinder und einen schlichten Spitzkragen und hatte eine matronenhafte Krankenschwester in gestärkter Schürze bei sich. Sie gehörten zum Personal des Thermalbades und waren ebenfalls von Monsieur Baillard geschickt worden.
Als Léonie hereinkam, verabreichte der Arzt gerade ein Sedativum. Die Schwester hatte Isoldes Ärmel aufgerollt, und er stach die Nadel der dicken silbernen Spritze in ihren dünnen Arm.
»Wie geht es ihr?«, fragte Léonie leise Marieta.
Das Hausmädchen schüttelte kurz den Kopf. »Sie kämpft darum, bei uns zu bleiben, Madomaisèla.«
Léonie trat näher ans Bett. Selbst für ihr ungeübtes Auge war klar, dass Isolde zwischen Leben und Tod schwebte. Ein heftiges, verzehrendes Fieber hatte sie gepackt. Léonie setzte sich und nahm ihre Hand. Da das Laken unter Isolde schweißnass war, wurde es gewechselt. Die Krankenschwester legte ihr feuchte Leinenstreifen auf die glühende Stirn, die ihrer Haut stets nur für kurze Zeit Kühlung brachten.
Als die Arznei des Doktors Wirkung zeigte, wurde die Hitze zu Kälte, und Isoldes Körper schlotterte so heftig unter der Decke, als wäre sie vom Veitstanz befallen.
Léonies fieberhafte Erinnerungsbilder an das Grauen, das sie erlebt hatte, wurden durch ihre Sorge um Isoldes Leben im Zaum gehalten. Ebenso wie die Schwere des Verlustes, die sie zu überwältigen drohte, wenn sie zu sehr darüber nachdachte. Ihre Mutter, tot. Anatole, tot. Isoldes Leben und das ihres ungeborenen Kindes auf Messers Schneide.
Der Mond ging am Himmel auf. Die Nacht vor Allerheiligen.
Kurz nachdem die Uhr elf geschlagen hatte, klopfte es an der Tür, und Pascal erschien.
»Madomaisèla Léonie«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Unten sind … Männer, die Sie sprechen möchten.«
»Der Pfarrer? Ist Abbé Saunière
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