Die achte Karte
brachte die Erinnerung an den Widerhall von Musik mit sich. Notenklänge, die im Wind trieben. Die ureigene Melodie des Ortes.
Als Meredith den Blick über den Park unterhalb von ihr schweifen ließ, bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie schaute hin und sah eine schlanke anmutige Gestalt in einem langen Umhang, eine Kapuze über dem Kopf, aus dem Windschatten des Gebäudes treten.
Es kam ihr so vor, als werde der Wind kräftiger, denn jetzt fegte er durch den Rundbogen, der in die hohe Buchsbaumhecke geschnitten war, hinaus auf die wilden Wiesen und das hohe Gras dahinter. Trotz der Entfernung konnte sie die weißen Schaumkronen auf dem See ausmachen, das bis ans Ufer und auf den Rasen schwappende Wasser.
Die Silhouette, die Kontur, die Gestalt hielt sich im Schatten, mied das blasse Licht der aufgehenden Sonne, das immer wieder durch die am rosa Himmel dahinjagenden Wolkenmassen drang. Sie schien über das feuchte Gras zu gleiten, auf dem ein hauchdünner Tauglanz lag. Meredith sog den Duft der Erde ein, es roch nach Herbst, nach nasser Erde, nach verbrannten Stoppeln, nach Feuer. Nach Knochen.
Sie beobachtete in gebannter Stille, wie die Gestalt,
wie Léonie,
da war sich Meredith sicher, auf die andere Seite des Sees ging. Für einen Moment blieb sie auf einer kleinen Landzunge stehen, die sich übers Wasser erhob. Merediths Blickfeld schien sich genau auf sie einzugrenzen, holte sie unerklärlich dicht heran, wie in einer Nahaufnahme. Sie stellte sich vor, wie die Kapuze nach hinten rutschte und das Gesicht der jungen Frau enthüllte. Es war blass und vollkommen symmetrisch, mit grünen Augen, die einst so klar geleuchtet hatten wie Smaragde. Schatten ohne Farbe. Die volle Lockenpracht fiel, durchscheinend im Morgenlicht, wie Spiralen aus gehämmertem Kupfer über die schmalen Schultern ihres roten Kleides bis hinunter zur schlanken Taille. Gestalt ohne Form. Sie schien Merediths Blick mit ihren Augen festzuhalten und ihre eigenen Hoffnungen und Ängste und Vorstellungen darin widerzuspiegeln.
Dann glitt sie davon, verschwand im Wald.
»Léonie?«, flüsterte Meredith in die Stille hinein.
Sie blieb noch eine Weile länger am Fenster stehen, starrte auf die Stelle am anderen Ufer des Sees, wo die Gestalt gestanden hatte. Die Luft dort war ruhig. Nichts regte sich im Schatten.
Schließlich wich sie zurück und schloss das Fenster.
Noch vor wenigen Tagen oder gar Stunden wäre sie zutiefst verstört gewesen. Hätte das Schlimmste befürchtet. Hätte in den Spiegel geschaut und Jeanettes Gesicht darin gesehen.
Jetzt nicht mehr.
Meredith konnte es sich selbst nicht erklären, aber alles hatte sich geändert. Sie fühlte sich innerlich vollkommen klar. Es ging ihr gut. Sie hatte keine Angst. Sie war nicht dabei, verrückt zu werden. Die Erscheinungen, die Gesichter, waren eine Sequenz, wie ein Musikstück. Unter der Brücke in Rennes-les-Bains – Wasser. Auf der Straße nach Sougraigne – Erde. Hier im Hotel, vor allem in diesem besonderen Raum, war die Präsenz am stärksten – Luft.
Schwerter, im Tarot die Farbe der Luft, standen für Intelligenz und Intellekt. Kelche, die Farbe, die mit Wasser in Verbindung stand, repräsentierten die Emotionen. Münzen, die Farbe der Erde, der materiellen Wirklichkeit, des Reichtums. Von den vier Farben fehlte nur noch das Feuer. Die Stäbe, die Farbe des Feuers, der Energie, des Konflikts.
Die Geschichte ist in den Karten.
Vielleicht war das Quartett aber auch in der Vergangenheit vollendet worden und nicht in der Gegenwart. Mit dem Feuer, das vor über hundert Jahren einen Großteil der Domaine de la Cade zerstört hatte?
Meredith wandte sich wieder den Tarotkarten zu, die Laura ihr geschenkt hatte, drehte wie schon am Vorabend jede Karte einzeln um und starrte auf die Bilder, als könnte sie sie zwingen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Sie legte sie langsam nebeneinander auf den Tisch und ließ dabei ihren Gedanken bewusst freien Lauf. Sie dachte daran, worüber sie und Hal auf der Fahrt nach Rennes-le-Château gesprochen hatten, dass die Westgoten ihre Könige und Edelleute zusammen mit ihren Schätzen nicht auf Friedhöfen, sondern in versteckten Gräbern bestatteten. Geheimkammern unter Flüssen, deren Lauf umgeleitet wurde, bis das Grab ausgehoben und die Totenkammer vorbereitet war.
Falls die Originalkarten den Brand überstanden hatten und irgendwo auf dem Grund und Boden der Domaine de la Cade verborgen lagen, waren sie dann sicherer
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