Die achte Karte
zusammengetragen.
Baillards Stil war klar und knapp und lieferte sachliche Informationen mit einem Minimum an Ausschmückungen. Aufgeregt entdeckte Meredith einen ganzen Abschnitt über die Domaine de la Cade. Während der Religionskriege von 1562 bis 1568 , einer Abfolge von Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten, war der Besitz in die Hände der Familie Lascombe gelangt. Alte Familiendynastien waren untergegangen und von
parvenus
verdrängt worden, die entweder für ihre Treue zum katholischen Haus Guise belohnt wurden oder für die zum calvinistischen Haus Bourbon.
Sie las rasch weiter. Jules Lascombe hatte den Besitz 1865 nach dem Tod seines Vaters Guy Lascombe geerbt. 1885 hatte er Isolde Labourde geehelicht und war 1891 kinderlos gestorben. Sie lächelte, weil damit ein weiteres Puzzleteilchen seinen Platz fand, und schaute zu der alterslosen Isolde hinter dem Glas des Fotorahmens hinüber, Jules’ Witwe. Dann fiel ihr ein, dass sie Isoldes Namen auf dem Familiengrab der Lascombe-Bousquets nicht gesehen hatte. Meredith fragte sich, warum.
Noch etwas, was ich überprüfen muss.
Sie senkte den Blick wieder auf die Seite. Baillard ging nun auf die Legenden ein, die mit der Domaine verbunden waren. Viele Jahre lang hatte es Gerüchte um eine entsetzliche und räuberische wilde Bestie gegeben, die das Land um Rennes-les-Bains in Angst und Schrecken versetzte, Kinder und Landarbeiter auf abgelegenen Höfen überfiel. Die Erkennungszeichen der Angriffe waren Krallenspuren, drei breite Kratzer durchs Gesicht. Ungewöhnliche Spuren.
Wieder hielt Meredith inne, weil sie an die Verletzungen denken musste, die Hals Vater erlitten hatte, als er in seinem Wagen unten im Fluss lag. Und an die entstellte Marienstatue auf dem westgotischen Pfeiler im Zugang zur Kirche von Rennes-le-Château. Gleich darauf kehrte ein Erinnerungsfetzen aus ihrem Alptraum zurück – das Bild eines Wandteppichs an einer schwach erhellten Treppe. Das Gefühl, gehetzt zu werden, Krallen und schwarzes Fell, die ihre Haut berührten, über ihre Hände glitten.
Un, deux, trois, loup.
Und zurück zum Friedhof von Rennes-les-Bains, wo ihr einer der Namen auf der Gedächtnistafel für die Toten des Ersten Weltkrieges aufgefallen war: Saint-Loup.
Zufall?
Meredith reckte die Arme über den Kopf, versuchte die Kälte abzuschütteln, die frühmorgendliche Steifheit und die Erinnerungen an die Nacht, dann las sie weiter. Zwischen 1870 und 1885 waren viele Menschen gestorben und verschwunden. Danach folgte eine relativ ruhige Phase, bis zum Herbst des Jahres 1891 , als wiederum hartnäckige Gerüchte auftauchten und der Glaube um sich griff, in einer westgotischen Grabkapelle auf dem Grundstück der Domaine de la Cade hause eine schauerliche Kreatur, ein Dämon, nach volkstümlicher Überlieferung. In den sechs folgenden Jahren kam es immer wieder zu Todesfällen – unerklärlichen Angriffen –, die im Jahre 1897 abrupt aufhörten. Der Autor sagte es zwar nicht ausdrücklich, stellte aber implizit das Ende der Schreckensphase mit einem Brand in Zusammenhang, bei dem Teile des Hauses und die Grabkapelle zerstört wurden.
Meredith klappte das Buch zu und rollte sich im Sessel zusammen. Sie nippte an ihrem Kakao, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, bis sie schließlich dahinterkam, was ihr keine Ruhe ließ. Es war doch eigenartig, dass in einem Buch, das sich mit mündlichen Überlieferungen und Legenden dieser Gegend befasste, Tarotkarten mit keinem Wort erwähnt wurden. Audric Baillard musste während seiner Recherchen von den Karten gehört haben. Sie waren nicht nur von der Landschaft hier inspiriert und von der Familie Bousquet gedruckt worden, sondern fielen auch exakt in die Zeitspanne, die er in seinem Buch behandelte.
Eine bewusste Auslassung?
Und auf einmal spürte sie es wieder. Eine Kälte, eine Verdichtung der Luft, die zuvor nicht da gewesen war. Die Empfindung, dass jemand da war, nicht weit entfernt, nicht im Zimmer, aber ganz nah. Flüchtig, bloß ein Schatten.
Léonie?
Meredith stand auf, wurde zum Fenster hingezogen. Sie löste den langen Metallriegel, zog die beiden hohen Flügel auf und stieß die Fensterläden nach außen, so dass sie gegen die Mauer schlugen. Die Luft war kalt auf ihrer Haut und ließ ihre Augen tränen. Die Baumwipfel schwankten, rauschten und seufzten, während der Wind sich um die mächtigen Stämme wand, durch den Wirrwarr aus Laub und Ästen. Die Luft war ruhelos,
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