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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Halle, und Léonie stieß die Tür auf.
    Die Erinnerung an Anatole war hier im Salon so stark, dass sie kurz ins Taumeln geriet. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn vor dem Kamin stehen, das Haar schimmernd, die Rockschöße hochhaltend, damit die Hitze der Flammen ihm den Rücken wärmte. Oder am Abend des Diners, wie er am Fenster stand, eine Zigarette zwischen die Finger geklemmt, im Gespräch mit Dr. Gabignaud. Oder wie er sich über den Kartentisch mit dem grünen Bezug beugte und zusah, während sie und Isolde
vingt-et-un
spielten. Es schien, als hätte er sich in die Atmosphäre des Raumes eingeschrieben, obgleich Léonie das erst in diesem Augenblick bewusst wurde.
    Es blieb Monsieur Baillard überlassen, den Polizisten einen Platz anzubieten und Léonie zu einer Ecke der Chaiselongue zu führen, wo sie sich wie im Halbschlaf hinsetzte. Er stellte sich hinter sie.
    Thouron erklärte den mutmaßlichen Ablauf der Ereignisse am Abend des 20 . September, als ihre Mutter ermordet wurde, die Entdeckung der Leiche und die kleinen Fortschritte bei den Ermittlungen, die sie schließlich nach Carcassonne und von dort nach Rennes-les-Bains geführt hatten.
    Léonie hörte die Worte, als kämen sie von weit weg. Sie drangen nicht in ihr Bewusstsein. Obwohl Thouron von ihrer Mutter sprach – und sie hatte ihre Mutter geliebt –, hatte der Verlust von Anatole eine Steinmauer um ihr Herz errichtet, die keine andere Gefühlsregung hineinließ. Sie würde noch Zeit genug finden für die Trauer um Marguerite. Und auch um den freundlichen und ehrenhaften Doktor. Doch vorläufig war in ihren Gedanken nur Raum für Anatole – und für das Versprechen, das sie ihrem Bruder gegeben hatte, seine Frau und sein Kind zu schützen.
    Thouron kam allmählich zum Ende. »Und dann gab der Concierge zu, dass er Geld dafür bekommen hatte, alle eintreffende Korrespondenz weiterzuleiten. Das Hausmädchen der Debussys bestätigte außerdem, den Mann in den Tagen vor und nach dem … Vorfall gesehen zu haben, wie er in der Rue de Berlin herumlungerte.« Thouron hielt inne. »Fürwahr, ohne den Brief, den Ihr verstorbener Bruder an Ihre Mutter geschrieben hatte, hätten wir Sie vermutlich bis heute noch nicht gefunden.«
    »Konnte der Mann identifiziert werden?«, fragte Baillard.
    »Wir haben nur Beschreibungen. Ein bedauernswert aussehendes Individuum. Seine Gesichtshaut ist rot und entzündet, er hat kaum Haare auf dem Kopf, und sein Schädel ist mit Blasen bedeckt.«
    Léonie zuckte zusammen. Drei Augenpaare sahen sie an.
    »Kennen Sie ihn, Mademoiselle Vernier?«, fragte Thouron.
    Das Bild, wie der Mann die Mündung seiner Pistole an Dr. Gabignauds Stirn legt und abdrückt. Die Gischt aus Knochen und Blut, die auf den Waldboden spritzt.
    Sie holte tief Luft. »Er ist Victor Constants Diener«, sagte sie.
    Thouron sah zu Bouchou hinüber. »Der Comte de Tourmaline?«
    »Verzeihung?«
    »Er ist ein und derselbe, Constant, Tourmaline. Er benutzt verschiedene Namen, wie die Umstände und seine jeweilige Begleitung es gerade erfordern.«
    »Er hat mir seine Karte gegeben«, sagte sie mit hohler Stimme. »Victor Constant.«
    Sie spürte Audric Baillards Hand beruhigend auf ihrer Schulter. »Wird der Comte de Tourmaline in dieser Angelegenheit verdächtigt, Inspecteur Thouron?«, erkundigte er sich.
    Der Polizist zögerte kurz und kam dann offenbar zu dem Schluss, dass Verschwiegenheit keinen Vorteil bringen würde, denn er nickte. »Und wie wir herausgefunden haben, ist er einige Tage nach Monsieur Vernier ebenfalls von Paris in den Süden gereist.«
    Léonie hörte gar nicht hin. Sie musste daran denken, wie ihr Herz einen Sprung getan hatte, als Victor Constant ihre Hand ergriff. Wie sie seine Karte versteckt und Anatole angelogen hatte. Wie sie sich den Mann tagsüber als ihren Verehrer vorgestellt und ihn nachts in ihre Träume gelassen hatte.
    Sie hatte ihn zu den beiden geführt. Wegen ihr lag Anatole jetzt auf der Totenbahre.
    »Léonie«, sagte Baillard behutsam. »War Constant der Mann, vor dem Madama Vernier geflohen ist? Mit dem sich Sénher Anatole heute Abend duelliert hat?«
    Léonie zwang sich zu antworten. »Ja, das war er«, sagte sie tonlos.
    Baillard ging durch den Raum zu dem kleinen runden Tisch mit den Getränken, goss für Léonie einen Cognac ein und kam dann zurück.
    »Wenn ich Ihre Gesichter sehe, Messieurs«, sagte er, als er ihr das Glas in die kalten Finger schob, »vermute ich, dass auch Sie den Mann

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