Die achte Karte
an die Tatsache, dass Léonie irgendetwas von ihr wollte.
Meredith schlüpfte aus dem Bett. Sie zog sich ein Paar dicke Socken an, um die Füße warm zu halten. Hal hatte seinen Pullover vergessen, der noch immer auf dem Stuhl lag, wo er ihn letzte Nacht achtlos hingeworfen hatte. Sie drückte ihn sich ans Gesicht, atmete seinen Duft ein. Dann zog sie ihn an, viel zu groß und schlabberig, und stieg in eine Jogginghose.
Sie betrachtete das Porträt. Die Sepiafotografie des Soldaten, Urgroßvater Vernier, klemmte in einer Ecke des Rahmens, wo sie sie gestern hingesteckt hatte. Meredith spürte eine verlockende Vielfalt an Möglichkeiten. Die konfusen Gedanken, die sich in ihrem Kopf angehäuft hatten, waren im Verlauf der Nacht zur Ruhe gekommen.
Der naheliegende erste Schritt war, herauszufinden, ob Anatole Vernier verheiratet gewesen war, obwohl das leichter gesagt als getan war. Zudem musste sie herausfinden, in welchem Verhältnis er und Léonie zu Isolde Lascombe standen. Hatten sie 1891 , also zu der Zeit, als die Aufnahme gemacht wurde, in dem Haus gelebt, oder waren sie in jenem Herbst nur zu Besuch gewesen? Wie sie bei ihrer detektivischen Online-Recherche am Vortag wieder einmal gemerkt hatte, tauchten ganz normale Leute nicht einfach so im Internet auf. Da galt es Genealogie-Webseiten zu durchforsten, da waren Namen und Daten, Geburts- und Sterbeorte erforderlich, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, an die gewünschten Informationen heranzukommen.
Sie startete ihren Computer und loggte sich ins Internet ein. Enttäuscht, aber eigentlich nicht überrascht, stellte sie fest, dass von Mary nichts Neues gekommen war. Sie schrieb eine weitere Mail nach Chapel Hill, in der sie Mary haarklein schilderte, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war, und sie bat, noch ein paar Dinge zu überprüfen. Nur Hal ließ sie unerwähnt. Und Léonie. Sie wollte Mary nicht unnötig beunruhigen. Sie verabschiedete sich mit dem Versprechen, bald wieder etwas von sich hören zu lassen, und klickte auf SENDEN .
Meredith fror ein wenig, und da sie plötzlich Durst hatte, ging sie ins Bad und füllte den Wasserkocher. Während sie darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, glitt ihr Blick über die Rücken der Bücher auf dem Regalbrett über dem Schreibtisch. Ein Titel machte sie neugierig:
Diables et Esprits Maléfiques et Fantômes de la Montagne.
Sie nahm es heraus und öffnete es. Wie der Rückseite des Titelblattes zu entnehmen war, handelte es sich um die Neuausgabe eines früheren Buches von einem einheimischen Autor namens Audric S. Baillard, der in dem Pyrenäendorf Los Seres gelebt hatte und 2005 verstorben war. Das Erscheinungsjahr der Erstausgabe war nicht angegeben, aber es war offensichtlich ein heimatgeschichtliches Grundlagenwerk. Laut den Rezensionen hinten auf dem Buchdeckel galt das Buch als der maßgebliche Text über Sagen und Mythen in diesem Teil der Pyrenäen.
Meredith überflog das Inhaltsverzeichnis; das Buch war in Geschichten über die verschiedenen Regionen unterteilt – Couiza, Coustaussa, Durban, Espéraza, Fa, Limoux, Rennes-les-Bains, Rennes-le-Château, Quillan. Das Kapitel über Rennes-les-Bains begann mit einem Schwarz-Weiß-Foto vom Place des Deux Rennes, aufgenommen um 1900 , als er noch den Namen Place du Pérou trug. Meredith lächelte. Alles kam ihr so vertraut vor. Sie konnte sogar exakt die Stelle erkennen, an der ihr Vorfahre gestanden hatte, unter den weiten Ästen der Platanen.
Der Wasserkocher begann zu pfeifen und schaltete sich aus. Sie schüttete ein Päckchen Kakaopulver in eine Tasse, goss heißes Wasser auf, rührte zwei Zuckerwürfel ein, und machte es sich dann mit Getränk und Buch in dem Sessel am Fenster gemütlich.
Die Geschichten in der Sammlung ähnelten sich von Ort zu Ort – Mythen von Dämonen und Teufeln, Generationen oder gar Jahrhunderte alt, die mündliche Überlieferungen zu natürlichen Erscheinungen in Bezug setzten: der Teufelssessel, der Gehörnte Berg, der Teufelssee, alles Namen, denen sie schon auf der Landkarte begegnet war.
Sie blätterte erneut zurück zum Titelblatt und sah noch einmal nach, ob sie nicht doch irgendwo einen Hinweis fand, wann das Buch erstmals erschienen war. Nein, es gab keine Angaben dazu. Ihr fiel auf, dass die letzte Geschichte aus den frühen Jahren des 20 . Jahrhunderts stammte, aber da der Verfasser erst vor zwei Jahren gestorben war, hatte er die Geschichten vermutlich in jüngerer Zeit
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