Die achte Karte
wütenden Hass gegen sie aufzustacheln. Sie begriff außerdem, obwohl sie es niemals aussprach, nicht einmal, wenn sie in der Dunkelheit der Nacht allein war, dass es niemals enden würde. Denn Victor Constant war wahrhaft besessen. Falls er sich in der Nähe von Rennes-les-Bains befand – und genau das war ihre Befürchtung –, dann hatte er unweigerlich von Isoldes Tod erfahren. Entscheidend war nun, Louis-Anatole in Sicherheit zu bringen. Sie würde mitnehmen, was sie konnte, in der Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Die Domaine de la Cade war Louis-Anatoles Zuhause. Sie würde nicht zulassen, dass Constant ihn um sein Geburtsrecht brachte.
Doch der Plan war in Gedanken leichter durchzuführen als in Taten.
In Wahrheit wusste Léonie nämlich nicht, wo sie hinsollten. Die Wohnung in Paris war längst aufgegeben worden, seit General Du Pont die Rechnungen nicht mehr bezahlt hatte. Ihr zurückgezogenes Leben auf der Domaine de la Cade hatte dazu geführt, dass sie, abgesehen von Audric Baillard, Madame Bousquet und Maître Fromilhague, kaum Freunde besaß. Achille war zu weit weg und hatte außerdem genug eigene Sorgen. Und Victor Constant hatte Léonie alle nahen Angehörigen genommen.
Aber ihr blieb keine andere Wahl.
Sie zog nur Pascal und Marieta ins Vertrauen und begann, ihre Abreise vorzubereiten.
Sie war sicher, dass Constant am Vorabend von Allerheiligen zum letzten Schlag gegen sie ausholen würde. Das war der Jahrestag von Anatoles Tod – und da Constant besessen war, was ein solches Datum betraf, würde er sicherlich auch dieses Mal darauf achten. Außerdem war der 31 . Oktober 1890 , wie Isolde einmal in einem klaren Augenblick erwähnt hatte, der Tag, an dem sie Constant eröffnet hatte, dass ihre kurzlebige Affäre ein Ende haben musste. Damit hatte alles angefangen.
Léonie war daher entschlossen, am Veille de Toussaint fort zu sein, falls er tatsächlich an dem Tag käme.
Der Morgen des 31 . Oktober war frisch und kühl, und Léonie zog Hut und Mantel an, um sich doch noch einmal auf den Weg zu der Lichtung mit den Wacholderbüschen zu machen. Sie wollte die Tarotkarten nicht dort zurücklassen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war, dass Constant in dem großen Wald zufällig auf sie stoßen würde. Da Monsieur Baillard noch immer fort war, wollte sie sie bis zu ihrer und Louis-Anatoles Rückkehr in die Obhut von Madame Bousquet geben.
Sie wollte gerade durch die Tür auf die Terrasse treten, als Marieta nach ihr rief. Verdutzt ging sie in die Halle zurück.
»Ich bin hier. Was ist denn?«
»Ein Brief, Madama«, sagte Marieta und reichte ihr einen Umschlag.
Léonie runzelte die Stirn. Nach den Ereignissen der letzten Monate reagierte sie auf alles, was irgendwie ungewöhnlich war, mit Argwohn. Sie schaute auf die Handschrift, erkannte sie aber nicht.
»Wer hat den Brief gebracht?«
»Ein Junge, aus Coustaussa.«
Verwundert öffnete Léonie den Umschlag. Das Schreiben kam von dem älteren Pfarrer der Gemeinde, Antoine Gélis, der sie dringend bat, ihn noch am selben Nachmittag aufzusuchen. Da er als ein ziemlicher Einsiedler galt – Léonie war ihm in sechs Jahren nur zweimal begegnet, einmal in Begleitung von Henri Boudet in Rennes-les-Bains aus Anlass von Louis-Anatoles Taufe und einmal auf Isoldes Beerdigung –, konnte sie sich diese Einladung kaum erklären.
»Möchten Sie Antwort schicken, Madama?«, fragte Marieta.
Léonie blickte auf. »Ist der Bote noch da?«
»Ja.«
»Hol ihn bitte her.«
Ein kleiner magerer Junge in nussbrauner Hose, kragenlosem Hemd und rotem Halstuch, seine Mütze verkrampft in den Händen haltend, wurde in die Halle geholt. Er sah aus, als fürchtete er sich zu Tode.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Léonie beruhigend. »Du hast nichts Unrechtes getan. Ich möchte dich nur fragen, ob Curé Gélis dir den Brief selbst übergeben hat.«
Er schüttelte den Kopf.
Léonie lächelte. »Nun, kannst du mir denn vielleicht sagen, wer dir den Brief gegeben hat?«
Marieta schob den Jungen ein Stück vor. »Die Herrin hat dich was gefragt.«
Nach und nach, wobei Marietas scharfzüngige Einwürfe eher hinderlich als dienlich waren, gelang es Léonie, der Sache auf den Grund zu gehen. Alfred, so hieß der Junge, war bei seiner Großmutter in Coustaussa zu Besuch. Er hatte gerade in dem verfallenen
château-fort
gespielt, als ein Mann aus dem Pfarrhaus trat und ihm einen Sou dafür bot, eine dringende
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