Die achte Karte
Fliegenschwarm umschwirrte wütend ein grobes Kreuz, das mit Blut auf das Holz geschmiert worden war. Darunter stand mit Teer geschrieben: PAR CE SIGNE TU LE VAINCRAS .
Léonie riss die Hände vor den Mund, von dem Gestank und der Abscheulichkeit des Anblicks wurde ihr übel. Dennoch wahrte sie die Fassung. »Pascal, lass das entfernen«, sagte sie. »Und ich wäre euch dankbar, wenn ihr kein Wort darüber verlieren würdet.« Sie sah ihre Leute an, die um sie herumstanden und in deren abergläubischen Augen sie ihre eigene Furcht gespiegelt sah. »Euch allen.«
Dennoch ließ Léonie sich nicht in ihrem Entschluss beirren. Sie würde sich nicht von der Domaine de la Cade vertreiben lassen, jedenfalls nicht bevor Monsieur Baillard zurückkehrte. Er hatte gesagt, er würde bis zum Sankt-Martins-Tag zurück sein. Sie hatte über sein Häuschen in der Rue de l’Hermite Briefe an ihn gesandt, in letzter Zeit immer häufiger, wusste aber nicht, ob sie ihn auf seinen Reisen erreicht hatten.
Die Lage verschlechterte sich. Ein weiteres Kind verschwand. Am 22 . Oktober, ein Datum, in dem Léonie den Jahrestag von Anatoles und Isoldes heimlicher Vermählung erkannte, wurde die Tochter eines Anwalts und seiner Frau, ein hübsches Kind mit weißen Schleifen und Rüschenkleidchen, vom Place du Pérou entführt. Ein Aufschrei der Empörung hallte durch den Ort.
Ein unglücklicher Zufall wollte es, dass Léonie gerade in Rennes-les-Bains war, als die zerfetzte und grausam zugerichtete Leiche des Kindes entdeckt wurde, und zwar auf dem Fauteuil du Diable, dem Teufelssessel, in den Bergen nicht weit von der Domaine de la Cade. Zwischen den blutigen Fingern der Kinderhand steckte ein wilder Wacholderzweig.
Léonie wurde kalt ums Herz, als sie das hörte, denn ihr wurde schlagartig klar, dass diese Botschaft ihr galt. Der Holzkarren kam die Gran’Rue heruntergerumpelt, gefolgt von einem zusammengewürfelten Trauerzug aus Dorfbewohnern. Erwachsene Männer, abgehärtet von der Mühsal ihres alltäglichen Lebens, weinten ungeniert.
Niemand sprach ein Wort. Dann erblickte eine rotgesichtige Frau, deren verbitterter Mund wutverzerrt war, Léonie und zeigte auf sie. Léonie verspürte ein ängstliches Frösteln, als sich die anklagenden Augen der Stadt auf sie richteten.
»Wir sollten gehen, Madama«, flüsterte Marieta und zog sie eilig davon.
Entschlossen, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen, hielt Léonie den Kopf hoch aufgerichtet, als sie sich abwandte und zu ihrer wartenden Kutsche schritt. Das Murren wurde lauter. Worte wurden gerufen, unflätige hässliche Beleidigungen, die sie trafen wie Schläge.
»
Pas luènh«,
drängte Marieta und nahm ihren Arm.
Zwei Tage später wurde ein in Öl und Gänsefett getränkter brennender Stofffetzen durch ein Fenster in der Bibliothek geworfen, das einen Spalt offen stand. Der Anschlag wurde entdeckt, ehe größerer Schaden entstehen konnte, doch von da an waren alle im Haus noch ängstlicher, noch wachsamer und unglücklicher.
Léonies Freunde und Verbündete in der Stadt – und Pascal und Marieta ebenso – taten ihr Bestes, um die Beschuldigungen, das Anwesen biete einer Bestie Unterschlupf, zu entkräften, doch die Menschen in der Stadt waren von ihrer voreingenommenen Meinung nicht abzubringen. Für sie stand zweifellos fest, dass der alte Teufel der Berge zurückgekehrt sei, um sein Recht zu fordern, so wie schon zu Lebzeiten von Jules Lascombe.
Kein Rauch ohne Feuer.
Léonie wollte sich am liebsten nicht eingestehen, dass Victor Constant bei der nicht enden wollenden Hetze gegen die Domaine de la Cade seine Hand im Spiel hatte, hegte aber tief im Innern keinen Zweifel daran, dass er Vorbereitungen traf, erneut zuzuschlagen. Sie versuchte, die Gendarmerie zu überzeugen, flehte in der Mairie, bat Maître Fromilhague, sich für sie zu verwenden, doch vergeblich. Die Domaine war auf sich allein gestellt.
Nach drei Tagen Regen mussten auf dem Anwesen eine Reihe von Feuern gelöscht werden. Brandstiftung. Der ausgeweidete Kadaver eines Hundes wurde im Schutz der Dunkelheit auf die Vordertreppe gelegt, woraufhin eines der jungen Dienstmädchen in Ohnmacht fiel. Es trafen anonyme Briefe ein, voller obszöner und eindeutiger Beschreibungen, wie Anatoles und Isoldes inzestuöse Beziehung Schrecken über das Tal gebracht habe.
Léonie stand allein mit ihren Ängsten und Befürchtungen, und sie begriff, dass genau das Constants Trachten war, nämlich in der Stadt einen
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