Die achte Karte
Finger wie zum Gebet zusammen.
»Wäre es nicht um eine Angelegenheit gegangen, die für mich von großer persönlicher Bedeutung ist«, sagte er leise, »hätte ich Sie nicht allein gelassen. Aber ich hatte die Nachricht erhalten, dass eine Person … eine Person, auf die ich viele viele Jahre gewartet habe, zurückgekehrt sei. Aber …« Er stockte, und in seinem kurzen Schweigen hörte Léonie den rohen Schmerz hinter den schlichten Worten. »Aber sie war es nicht.«
Léonie war für einen Moment abgelenkt. Sie hatte ihn nur einmal zuvor mit solcher Zuneigung sprechen hören, doch damals hatte sie den Eindruck gewonnen, dass die junge Frau, von der er mit so großer Zärtlichkeit sprach, schon einige Jahre tot war.
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, Monsieur Baillard«, sagte sie behutsam.
»Nein«, bestätigte er leise. Dann nahm sein Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an. »Hätte ich es gewusst, hätte ich Rennes-les-Bains nicht verlassen.« Er seufzte. »Aber ich habe meine Reise immerhin dazu genutzt, einen Zufluchtsort für Sie und Louis-Anatole vorzubereiten.«
Léonies grüne Augen weiteten sich vor Erstaunen.
»Aber ich habe diese Entscheidung doch erst vor einer Woche getroffen«, wandte sie ein. »Vor nicht einmal einer Woche. Und Sie waren zehn Monate fort. Wie konnten Sie …«
Er lächelte bedächtig. »Ich hatte schon länger die Befürchtung, es könnte notwendig werden.«
»Aber wie …«
Er hob eine Hand. »Ihr Verdacht ist richtig, Madama Léonie. Victor Constant hält sich tatsächlich in der Nähe der Domaine de la Cade auf.«
Léonie erstarrte. »Falls Sie Beweise haben, müssen wir die Obrigkeit verständigen. Bislang hat man meine Sorgen nicht ernst genommen.«
»Ich habe keine Beweise, nur gesicherte Vermutungen. Doch Constant, da bin ich sicher, ist aus einem bestimmten Grund hier. Sie müssen noch heute Abend aufbrechen. Mein Haus in den Bergen ist vorbereitet und wartet auf Sie. Ich werde Pascal den Weg beschreiben.« Er hielt inne. »Er und Marieta – die inzwischen seine Frau ist, wie ich glaube – werden Sie doch begleiten?«
Léonie nickte. »Ich habe ihnen meine Absicht anvertraut.«
»Sie können in Los Seres bleiben, solange Sie möchten. Auf jeden Fall, bis Sie gefahrlos zurückkehren können.«
»Danke, ich danke Ihnen.« Mit Tränen in den Augen sah Léonie sich im Zimmer um. »Es fällt mir schwer, dieses Haus zu verlassen«, sagte sie still. »Für meine Mutter und für Isolde war es ein Ort des Unglücks. Doch für mich ist es trotz des Leids, das ich hier erlebt habe, ein Zuhause geworden.«
Sie stockte. »Es gibt noch etwas, was ich Ihnen gestehen muss, Monsieur Baillard.«
Sein Blick wurde schärfer.
»Vor sechs Jahren gab ich Ihnen mein Wort, dass ich nicht zur Grabkapelle zurückkehren würde«, begann sie. »Und ich habe mein Versprechen gehalten. Aber was die Karten betrifft, so muss ich Ihnen sagen, dass ich, nachdem ich Sie an jenem Tag in Rennes-les-Bains besucht habe – vor dem Duell und Anatoles …«
»Ich erinnere mich«, sagte er ruhig.
»Ich bin damals durch den Wald nach Hause gegangen und zufällig auf eine Stelle gestoßen, von der ich glaubte, dort könnten die Tarotkarten versteckt sein. Ich habe nur aus Neugier nachgesehen, ob ich sie tatsächlich gefunden hatte.«
Sie sah Monsieur Baillard an und erwartete, Enttäuschung oder gar Missbilligung auf seinem Gesicht zu sehen. Zu ihrer Verblüffung lächelte er.
»Und es ist Ihnen gelungen.«
Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ja. Aber ich gebe Ihnen mein Wort«, fügte Léonie hastig hinzu, »dass ich mir die Karten nur kurz angesehen und sie dann wieder zurückgelegt habe.« Sie hielt inne. »Aber ich möchte sie nicht hier auf dem Grund und Boden der Domaine de la Cade lassen. Er könnte sie finden, und dann …«
Noch während sie sprach, griff Audric Baillard in die Tasche seines weißen Anzugs. Er holte ein in schwarze Seide eingeschlagenes Päckchen heraus, das ihr vertraut war, und öffnete es. Das Bild von La Force lag obenauf.
»Sie haben sie!«, rief Léonie und trat auf ihn zu. Dann bremste sie sich. »Sie wussten, dass ich dort gewesen bin?«
»Sie waren so freundlich, Ihre Handschuhe als Andenken zu hinterlassen. Wissen Sie noch?«
Léonie errötete bis in die Haarwurzeln.
Er faltete die schwarze Seide zusammen. »Ich bin hingegangen, weil ich genau wie Sie glaube, dass diese Karten nicht in den Besitz eines Mannes wie Victor Constant
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