Die achte Karte
erledigen hatte?
Nach dieser vergeblichen Fahrt wollte Léonie nur noch möglichst rasch nach Hause. Sie zog Papier und Stift aus der Tasche ihres Umhangs und schrieb hastig eine Nachricht, dass sie den Curé zu ihrem Bedauern verpasst habe. Sie schob den Zettel in den kleinen Briefkasten an der Wand des Pfarrhauses und hastete zurück zur Kutsche.
Pascal trieb die Pferde auf der Rückfahrt sogar noch schneller an, doch jede Minute kam ihr vor wie eine Ewigkeit, und als endlich die Lichter der Domaine de la Cade in Sicht kamen, hätte Léonie vor Erleichterung fast aufgeschrien. Auf der gefährlich vereisten Auffahrt verlangsamte Pascal die Kutsche, und Léonie wäre am liebsten hinausgesprungen und vorgelaufen.
Als sie endlich anhielten, sprang sie sogleich mit einem Satz aus dem Gig und stürmte die Eingangstreppe hinauf, gehetzt von der namenlosen, gesichtslosen Angst, dass in ihrer Abwesenheit irgendetwas passiert sein könnte. Sie stieß die Tür auf und eilte in die Halle.
Louis-Anatole kam auf sie zugelaufen. »Er ist da«, schrie er.
Léonie gefror das Blut in den Adern.
Bitte, Gott, nein. Nicht Victor Constant.
Hinter ihr fiel die Tür krachend ins Schloss.
Kapitel 93
∞
B onjorn,
Madomaisèla«, ertönte eine Stimme aus dem Halbdunkel.
Zuerst wollte Léonie ihren Ohren nicht trauen.
Er trat aus der Dunkelheit, um sie zu begrüßen. »Ich war zu lange fort.«
Sie sprang vor, beide Arme ausgestreckt. »Monsieur Baillard«, rief sie. »Wie schön, herzlich willkommen!«
Er lächelte zu Louis-Anatole hinüber, der neben ihm von einem Bein aufs andere hüpfte.
»Dieser junge Mann hat sich ausgezeichnet um mich gekümmert«, sagte er. »Er hat mich mit seinem Klavierspiel unterhalten.«
Ohne auf eine weitere Aufforderung zu warten, rannte Louis-Anatole über die roten und schwarzen Fliesen, sprang auf die Klavierbank und begann zu spielen.
»Hör dir das an, Tante Léonie«, rief er. »Das hab ich hier in der Bank gefunden. Und ich hab’s mir ganz allein beigebracht.«
Eine eindringliche Melodie in a-Moll, leicht und sanft, bei der seine kleinen Hände Mühe hatten, die Akkorde nicht zu zerhacken. Musik, endlich gehört. Gespielt, und so schön gespielt, von Anatoles Sohn.
Grabkapelle 1891 .
Léonie merkte, dass ihre Augen voller Tränen waren. Sie spürte Audric Baillards Hand auf ihrer, seine Haut, so trocken. Sie standen da und lauschten, bis der letzte Akkord verklang.
Louis-Anatole ließ die Hände in den Schoß sinken und holte tief Luft, als lauschte er auf den Nachklang in der Stille, dann wandte er sich um und sah sie mit stolzer Miene an.
»Na bitte«, sagte er. »Ich hab geübt. Für dich, Tante Léonie.«
»Sie haben großes Talent, Sénher«, sagte Monsieur Baillard und klatschte.
Louis-Anatole strahlte vor Freude. »Wenn ich nicht Soldat werden kann, wenn ich mal groß bin, dann fahre ich nach Amerika und werde ein berühmter Pianist.«
»Beides ehrenwerte Berufe«, lachte Baillard. Dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. »Nun jedoch, mein tüchtiger junger Freund, müssen deine Tante und ich einige Dinge erörtern. Wenn du uns bitte entschuldigen würdest?«
»Aber ich …«
»Es wird nicht lange dauern,
petit«,
sagte Léonie mit Nachdruck. »Und sobald wir fertig sind, rufen wir dich.«
Louis-Anatole seufzte, dann zuckte er die Achseln, grinste und rannte, nach Marieta rufend, Richtung Küche.
Sobald er fort war, eilten Monsieur Baillard und Léonie in den Salon. Er stellte präzise und umsichtige Fragen, und Léonie schilderte ihm alles, was geschehen war, seit er Rennes-les-Bains im Januar verlassen hatte, das Tragische, das Surreale, das Unerklärliche, und sie sprach von ihrem Verdacht, dass Victor Constant zurückgekehrt sein könnte.
»Ich habe Ihnen doch von unserer Not geschrieben«, sagte sie, wobei ihre Stimme vorwurfsvoller klang, als sie beabsichtigte, »aber ich wusste ja nicht, ob Sie meine Briefe überhaupt erhalten haben.«
»Manche ja, ich vermute, andere sind verlorengegangen«, sagte er düster. »Die tragische Nachricht von Madama Isoldes Tod habe ich erst heute Nachmittag bei meiner Rückkehr erfahren. Ich war tief erschüttert.«
Léonie musterte ihn und sah, wie müde und gebrechlich er wirkte. »Es war eine Erlösung. Sie war schon so lange unglücklich«, sagte sie ruhig und presste die Hände ineinander. »Erzählen Sie mir, wo Sie waren? Ihre Gesellschaft hat mir sehr gefehlt.«
Er legte die Spitzen seiner langen schlanken
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