Die achte Karte
Heute Nacht werden wir nicht kämpfen.«
Louis-Anatole nickte.
»Gibt es noch Hoffnung?«, flüsterte Léonie.
»Es gibt immer Hoffnung«, sagte er leise. Dann verhärtete sich seine Miene. Er sah Pascal an. »Ist das Gig bereit?«
Pascal nickte. »Es wartet in der Lichtung bei der Grabkapelle. Das müsste weit genug entfernt sein, um den Augen des Mobs zu entgehen. Ich hoffe, ich kann uns unbemerkt von hier wegbringen.«
»Ben, ben.
Gut. Wir gehen hinten raus und querfeldein in den Wald. Beten wir, dass ihr erstes Ziel das Haus ist.«
»Was ist mit den Dienstboten?«, fragte Léonie. »Auch sie müssen sich retten.«
Eine tiefe Röte stieg in Pascals breites, ehrliches Gesicht. »Das werden sie nicht«, sagte er. »Sie wollen das Haus verteidigen.«
»Ich möchte nicht, dass unseretwegen jemand zu Schaden kommt, Pascal«, sagte Léonie sofort.
»Ich will es ihnen sagen, Madama, aber ich glaube nicht, dass sie ihren Entschluss ändern werden.«
Léonie sah, dass seine Augen feucht waren.
»Danke«, sagte sie leise.
»Pascal, wir passen auf deine Marieta auf, bis wir zu dir stoßen.«
»Oc,
Sénher Baillard.«
Er gab seiner Frau noch rasch einen Kuss und verließ den Raum.
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Dann wurde ihnen wieder die Dringlichkeit der Situation bewusst, und ein Ruck durchzuckte alle.
»Léonie, nehmen Sie nur das Nötigste mit. Marieta, hol Madama Léonies Handkoffer und ihre Pelze. Es wird eine lange und kalte Fahrt.«
»Marieta, mein Koffer ist bereits gepackt, und darin ist eine kleine Mappe mit Bildern, etwa so groß, in meinem Handarbeitskasten.« Léonie umriss mit den Händen die Form eines Büchleins. »Nimm den Handarbeitskasten an dich und gib gut acht darauf. Aber bring mir die Mappe, ja?«
Marieta nickte und eilte hinaus in die Halle.
Léonie wartete, bis sie fort war, dann wandte sie sich wieder Monsieur Baillard zu. »Das hier ist nicht Ihr Kampf, Audric«, sagte sie.
»Sajhë«, sagte er sanft. »Meine Freunde nennen mich Sajhë.«
Sie lächelte, fühlte sich durch sein unerwartetes Vertrauen geehrt. »Nun gut, Sajhë. Vor vielen Jahren haben Sie mir einmal gesagt, nicht die Toten, sondern die Lebenden bedürften meiner Dienste am dringendsten. Erinnern Sie sich?« Sie sah zu dem kleinen Jungen hinunter. »Es geht jetzt nur noch um ihn. Wenn Sie ihn zu sich nehmen, dann werde ich wenigstens wissen, dass ich meine Pflicht erfüllt habe.«
Er lächelte. »Liebe – wahre Liebe – dauert fort, Léonie. Ihr Bruder, Isolde, Ihre Mutter, sie wussten das. Sie haben sie nicht verloren.«
Léonie dachte an die Worte, die Isolde auf der Steinbank zu ihr gesagt hatte, als sie am Tag nach dem ersten großen Diner auf der Domaine de la Cade dort saßen. Sie hatte von ihrer Liebe zu Anatole gesprochen, auch wenn Léonie das damals noch nicht wusste. Eine so starke Liebe, dass Isoldes Leben ohne sie unerträglich geworden war. Sie hätte sich auch für sich selbst eine solche Liebe gewünscht.
»Bitte, geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie Louis-Anatole nach Los Seres mitnehmen werden.« Sie stockte. »Außerdem könnte ich es mir nie verzeihen, wenn Ihnen etwas zustoßen würde.«
Er schüttelte den Kopf. »Meine Zeit ist noch nicht gekommen, Léonie. Es gibt noch vieles für mich zu tun, bevor ich diese Reise antreten darf.«
Ihr Blick huschte zu dem vertrauten gelben Tuch, ein seidenes Rechteck aus Farbe, das über den Rand seiner Brusttasche hervorlugte.
Marieta erschien wieder in der Tür, Louis-Anatoles Winterkleidung auf dem Arm.
»Hier«, sagte sie. »Schnell jetzt.«
Der Junge ging gehorsam zu ihr hinüber und ließ sich von ihr ankleiden. Dann stürmte er plötzlich los und rannte hinaus in die Halle.
»Louis-Anatole!«, schrie Léonie ihm nach.
»Ich muss noch was holen«, rief er und kam kurz darauf mit dem Notenblatt in der Hand zurück. »Wo wir hinfahren, brauchen wir doch auch Musik«, sagte er mit einem Blick in die besorgten Gesichter der Erwachsenen. »Wirklich, das brauchen wir!«
Léonie kniete sich vor ihm hin. »Du hast völlig recht,
petit.
«
»Obwohl«, sagte er zögernd. »Ich weiß gar nicht, wo wir hinfahren.«
Vor dem Haus ertönte ein Schrei. Der Aufruf zum Kampf.
Léonie stand rasch auf und spürte die kleine Hand ihres Neffen in ihre gleiten.
Getrieben von Furcht, der Dunkelheit und dem Schrecken all der Dinge, die zu dieser Stunde am Allerheiligenabend vor sich gingen, begannen die mit Feuer, Keulen und Jagdgewehren
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