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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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gelangen sollten. Und …« Er zögerte. »Und weil ich glaube, dass wir sie möglicherweise brauchen werden.«
    »Sie haben mich davor gewarnt, die Macht der Karten zu nutzen«, widersprach sie.
    »Es sei denn, es bleibt keine andere Wahl«, entgegnete er ruhig. »Ich fürchte, dieser Augenblick ist jetzt gekommen.«
    Léonies Herz fing an zu rasen. »Lassen Sie uns aufbrechen, auf der Stelle.« Die schweren Winterunterröcke und die Strümpfe, die auf ihrer Haut kratzten, schienen ihr auf einmal schrecklich unangenehm. Die Perlmuttkämme in ihrem Haar, ein Geschenk von Isolde, schienen sich wie scharfe Zähne in ihre Kopfhaut zu graben. »Gehen wir, jetzt sofort.«
    Ohne Vorwarnung überfiel sie die Erinnerung an ihre ersten glücklichen Wochen auf der Domaine de la Cade – sie und Anatole und Isolde –, ehe das Schicksal zugeschlagen hatte. Wie sie nach den hellen Lichtern von Paris in jenem längst vergangenen Herbst von 1891 vor allem die Dunkelheit gefürchtet hatte, undurchdringlich und absolut.
    Il était une fois.
Es war einmal.
    Damals war sie fast noch ein Kind gewesen, arglos, unberührt von Dunkelheit oder Trauer. Tränen ließen ihren Blick verschwimmen, und sie schloss die Augen.
    Das Geräusch überstürzter Schritte in der Halle verjagte ihre Erinnerungen. Sie sprang auf und wandte sich genau in dem Moment um, als die Salontür aufflog und Pascal in den Raum gestolpert kam.
    »Madama Léonie, Sénher Baillard«, rief er. »Da kommen … Männer. Sie sind schon durchs Tor!«
    Léonie lief zum Fenster. Am Horizont sah sie eine Ansammlung brennender Fackeln, die sich gold- und ockerfarben gegen den schwarzen Nachthimmel abhoben.
    Dann hörte sie ganz in der Nähe Glas splittern.

Kapitel 94
    ∞
    L ouis-Anatole kam ins Zimmer gerannt, riss sich von Marieta los und sprang in Léonies Arme. Er war blass, und seine Unterlippe bebte, aber er versuchte zu lächeln.
    »Wer sind die Leute?«, fragte er ängstlich.
    Léonie drückte ihn eng an sich. »Das sind böse Männer,
petit.
«
    Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, legte schützend die Hand an die Scheibe und spähte hinaus. Der Mob war noch ein Stück entfernt, näherte sich aber unaufhaltsam. Jeder der Eindringlinge hielt eine lodernde Fackel in der einen Hand und in der anderen eine Waffe. Es sah aus wie eine Armee kurz vor der Schlacht. Léonie vermutete, dass sie nur noch auf Constants Signal zum Angriff warteten.
    »Es sind so viele«, murmelte sie. »Wie hat er nur die ganze Stadt gegen uns aufbringen können?«
    »Er hat ihren natürlichen Aberglauben ausgenutzt«, antwortete Baillard. »Ob Republikaner oder Royalisten, sie sind alle mit den Geschichten von dem Dämon aufgewachsen, der das Land heimsucht.«
    »Asmodeus.«
    »Verschiedene Namen in verschiedenen Zeiten, aber immer dasselbe Gesicht. Und wenn die anständigen Bürger der Stadt tagsüber vorgeben, nicht an solche Geschichten zu glauben, dann raunen ihnen doch des Nachts in der Dunkelheit ihre tieferen, älteren Seelen etwas anderes zu. Sie flüstern von übernatürlichen Wesen, die mit ihren Klauen zuschlagen und die nicht getötet werden können, von düsteren und schrecklichen Orten, wo Spinnen ihre Netze weben.«
    Léonie wusste, dass er recht hatte. Eine Erinnerung durchzuckte sie, an die Nacht der Krawalle im Palais Garnier in Paris. Und dann letzte Woche, der Hass auf den Gesichtern der Menschen, die sie in Rennes-les-Bains kannte. Sie wusste, wie schnell, wie leicht eine Menge vom Blutrausch erfasst werden konnte.
    »Madama?«, sagte Pascal beschwörend.
    Léonie sah die züngelnden Flammen, die in die schwarze Luft leckten und ihren Lichtschein auf die feuchten Blätter der hohen Kastanienbäume warfen, die die Einfahrt säumten. Sie riss den Vorhang zu und trat vom Fenster weg.
    »Meinen Bruder und Isolde bis ins Grab zu verfolgen, selbst das scheint nicht genug«, murmelte sie. Sie schaute nach unten auf Louis-Anatoles schwarzgelockten Kopf, der sich an sie schmiegte, und hoffte, dass er sie nicht verstanden hatte.
    »Können wir nicht mit ihnen reden?«, fragte der Junge. »Ihnen sagen, dass sie uns nichts tun sollen?«
    »Die Zeit zu reden ist vorüber, mein Freund«, entgegnete Baillard. »Es kommt immer der Moment, in dem der Wunsch zu handeln, wie unbegründet auch immer, stärker ist als der Wunsch zuzuhören.«
    »Müssen wir jetzt kämpfen?«
    Baillard lächelte. »Ein guter Soldat weiß, wann er sich dem Feind stellen und wann er sich zurückziehen muss.

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