Die achte Karte
Nachricht zur Domaine de la Cade zu bringen.
»Curé Gélis hat eine Nichte, die ihn versorgt, Madama Léonie«, sagte Marieta. »Die Mahlzeiten zubereitet. Ihm die Wäsche macht.«
»War der Mann ein Dienstbote?«
Alfred zuckte die Achseln.
Léonie sah ein, dass aus dem Jungen nicht mehr herauszubringen war, und entließ ihn.
»Werden Sie hinfahren, Madama?«, fragte Marieta.
Léonie dachte nach. Sie hatte vor ihrer Abreise noch allerhand zu erledigen. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, dass Curé Gélis eine solche Nachricht ohne guten Grund geschickt hätte. Es war eine schwierige Situation.
»Ja, das werde ich«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Sag Pascal, er soll sofort das Gig vorfahren.«
Sie verließen die Domaine de la Cade kurz vor halb drei.
Die Luft war schwer vom Geruch der Herbstfeuer. An den Türrahmen der Häuser und Höfe, an denen sie vorbeikamen, hingen Buchsbaum- und Rosmarinzweige. An Straßenkreuzungen waren wie aus dem Nichts kleine Schreine für Allerheiligen entstanden. Papier- und Stofffetzen, mit uralten Gebeten und Beschwörungen beschrieben, lagen als Opfergaben da.
Léonie wusste, dass auf den Friedhöfen von Rennes-les-Bains und Rennes-le-Château, ja von jedem Bergdorf, bereits in schwarzen Crêpe und Schleier gehüllte Witwen auf feuchter Erde vor alten Gräbern knieten und für diejenigen, die sie geliebt hatten, um Erlösung beteten. Umso mehr in diesem Jahr, wo ein solcher Fluch auf dem Land lastete.
Pascal trieb die Pferde unerbittlich an, bis ihnen der Schweiß vom Rücken strömte und die Nüstern sich in der kalten Luft blähten. Trotzdem war es schon fast dunkel, bis die Strecke von Rennes-les-Bains nach Coustaussa hinter ihnen lag und sie die extrem steile Steigung bewältigt hatten, die von der Hauptstraße hinauf ins Dorf führte.
Léonie hörte die Glocken unten im Tal vier Uhr schlagen. Sie ließ Pascal bei der Kutsche und den Pferden und ging allein durch das menschenleere Dorf. Coustaussa war winzig, bloß eine Handvoll Häuser. Keine Bäckerei, kein Café.
Ohne Schwierigkeiten fand sie das Pfarrhaus, das unmittelbar an die Kirche grenzte. Drinnen schien sich nichts zu rühren, und sie sah auch kein Licht brennen.
Mit wachsender Beklommenheit klopfte sie an die schwere Tür. Niemand kam. Niemand öffnete. Sie pochte erneut, diesmal etwas fester.
»Curé Gélis?«
Nach einigen Augenblicken beschloss Léonie, in der Kirche nachzusehen. Sie ging um das dunkle Steingebäude herum auf die Rückseite. Alle Türen, vorne und an den Seiten, waren verriegelt. Eine schwach flackernde Öllampe hing traurig an einem verbogenen Eisenhaken.
Zunehmend ungeduldig eilte Léonie zu dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite und klopfte an. Drinnen waren schlurfende Schritte zu hören, dann schob eine alte Frau das Eisengitter zurück, das in eine Luke in der Tür eingelassen war.
»Wer ist da?«
»Guten Abend«, sagte Léonie. »Ich bin mit Curé Gélis verabredet, aber er öffnet nicht.«
Die Hausbesitzerin schwieg, starrte Léonie nur finster und argwöhnisch an. Léonie kramte in ihrer Tasche und holte einen Sou hervor, den die Frau ihr sogleich aus der Hand riss.
»
Ritou
ist nicht da«, sagte sie schließlich.
»Ritou?«
»Der Pfarrer. Ist nach Couiza.«
Léonie war fassungslos. »Das kann nicht sein. Ich habe vor nicht einmal zwei Stunden einen Brief von ihm erhalten, in dem er mich bittet, sofort zu ihm zu kommen.«
»Hab ihn weggehen sehen«, sagte die Frau mit sichtlicher Häme. »Hat schon wer nach ihm gefragt.«
Léonie riss die Hand hoch und hinderte die Frau daran, das Gitter zu schließen. Durch den Spalt drang nur noch ein dünner Lichtschein von innen auf die Straße.
»Wer war das?«, fragte sie. »Ein Mann?«
Schweigen. Léonie holte eine zweite Münze hervor.
»Franzose«, sagte die Alte, spie das Wort bewusst so verächtlich aus, dass es wie eine Beleidigung klang.
»Wann war das?«
»Vor Einbruch der Dämmerung. War noch hell.«
Verwirrt nahm Léonie ihre Hand weg, und sofort wurde das Gitter zugeknallt.
Sie wandte sich ab und zog zum Schutz gegen die hereinbrechende Nacht ihren Umhang enger um sich.
Sie konnte nur vermuten, dass Curé Gélis in der Zeit, die der Junge gebraucht hatte, um zu Fuß von Coustaussa zur Domaine de la Cade zu laufen, des Wartens müde geworden war und seinen eigenen Aufbruch nicht länger hatte hinauszögern können. Vielleicht weil er noch eine andere dringende Angelegenheit zu
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