Die achte Karte
sie sein könnten.«
»Und die da?« Der Diener deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf den Mob.
Der Lärm und das Schreien wuchsen zu einem Crescendo an, während der Kampf seinen Höhepunkt erreichte. Bald würde die Plünderung beginnen. Selbst wenn der Junge heute Nacht entkam, er würde nichts mehr haben, wohin er zurückkehren könnte. Er wäre mittellos.
»Lass sie machen«, sagte Constant.
Kapitel 96
∞
D as Gehen gestaltete sich nur noch mühsam, sobald sie im Wald waren. Louis-Anatole war ein kräftiger Junge, und Monsieur Baillard bewegte sich trotz seines Alters mit erstaunlicher Gewandtheit, dennoch kamen sie nur langsam voran. Sie hatten eine Lampe dabei, entzündeten sie jedoch nicht, aus Angst, entdeckt zu werden.
Léonies Füße fanden den Weg zur Grabkapelle, den sie so lange gemieden hatte, wie von allein. Während sie den steilen Hang hinaufstapfte, strich ihr langer schwarzer Umhang durch welkes Herbstlaub, das feucht den Boden bedeckte. Sie dachte an all die Spaziergänge, die sie auf dem Anwesen gemacht hatte – die freie Stelle im Wald mit den wilden Wacholderbüschen, die Lichtung, auf der Anatole gestorben war; das Grab ihres Bruders und Isoldes, Seite an Seite auf der Landzunge am hinteren Seeufer –, und ihr Herz weinte bei dem Gedanken, dass sie vielleicht nichts davon je wiedersehen sollte. So lange hatte sie sich durch ihr eingeschränktes Leben wie eingesperrt gefühlt, doch jetzt, wo die Zeit des Abschieds gekommen war, wollte sie nicht fort. Die Felsen, die Berge, die Wälder, die schattigen Pfade, all das schien so untrennbar mit ihrer Person verbunden zu sein, als ob es ihr unter die Haut genäht worden wäre.
»Sind wir bald da, Tante Léonie?«, fragte Louise-Anatole kläglich, als sie etwa eine Viertelstunde unterwegs waren. »Meine Stiefel drücken.«
»Gleich«, sagte sie und fasste seine Hand fester. »Pass auf, dass du nicht ausrutschst.«
»Weißt du«, sagte er mit einer Stimme, die seine Worte Lügen strafte, »ich habe überhaupt keine Angst vor Spinnen.«
Sie kamen auf die Lichtung und verlangsamten ihren Schritt. Die Allee von Eiben, an die Léonie sich von ihrem ersten Besuch her erinnerte, wirkte nach all der Zeit noch knorriger und das Blätterdach noch undurchlässiger.
Pascal wartete wie vereinbart. Die schwachen Lampen auf beiden Seiten des Gigs flackerten in der kalten Luft, und die Pferde stampften mit den Eisenhufen auf dem harten Boden.
»Wo sind wir, Tante Léonie?«, wollte Louis-Anatole wissen, und seine Neugier verdrängte für einen Moment die Angst. »Sind wir immer noch auf unserem Besitz?«
»Ja. Das ist die alte Grabstätte.«
»Wo Leute beerdigt werden?«
»Manchmal.«
»Wieso sind Papa und M’man nicht hier beerdigt?«
Sie zögerte. »Weil sie lieber draußen sein wollten, unter Bäumen und Blumen. Deshalb liegen sie zusammen am See.«
Louis-Anatole zog die Stirn kraus. »Damit sie die Vögel hören können?«
Léonie lächelte. »Genau.«
»Bist du deshalb noch nie mit mir hier gewesen?«, sagte er und bewegte sich auf die Tür zu. »Weil da drin Geister sind?«
Léonie streckte die Hand aus und hielt ihn fest. »Wir haben keine Zeit, Louis-Anatole.«
Er machte ein trauriges Gesicht. »Darf ich nicht hinein?«
»Jetzt nicht.«
»Gibt es da Spinnen?«
»Vielleicht, aber du hast ja keine Angst vor Spinnen, deshalb würde dir das nichts ausmachen.«
Er nickte, aber er war recht blass geworden. »Wir kommen ein anderes Mal wieder. Wenn es hell ist.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte sie.
Sie spürte Monsieur Baillards Hand auf ihrem Arm.
»Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren«, sagte Pascal. »Wir müssen möglichst weit weg sein, wenn Constant klar wird, dass wir nicht im Haus sind.« Er bückte sich, hob Louis-Anatole auf und setzte ihn in die Kutsche. »So,
pichon,
hast du Lust auf ein mitternächtliches Abenteuer?«
Louis-Anatole nickte.
»Es ist ein weiter Weg.«
»Weiter als zum Lac de Barrenc?«
»Ja, sogar noch weiter«, antwortete Pascal.
»Das macht mir nichts aus«, sagte Louis-Anatole. »Marieta spielt doch mit mir, oder?«
»Natürlich.«
»Und Tante Léonie wird mir Geschichten erzählen.«
Die Erwachsenen wechselten sorgenvolle Blicke. Wortlos stiegen Monsieur Baillard und Marieta in das Gig, während Pascal sich auf den Kutschbock setzte.
»Komm doch, Tante Léonie«, sagte Louis-Anatole.
Léonie schloss den Verschlag mit einem lauten Klacken. »Passt gut auf ihn
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