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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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muntere Leben und die vom Wind getragene Musik könnten zusammenwirken, um die Geister zu beschwören, die diese uralten Orte bewohnten.
    War das wirklich möglich?
    Wie Léonie es verstanden hatte, waren es nicht die Karten allein, nicht die Musik und auch nicht nur der Ort, sondern das Zusammenspiel dieser drei Dinge innerhalb der Mauern der Grabkirche.
    Und falls die Mythen tatsächlich der Wahrheit entsprachen, dann, so wusste sie selbst trotz all ihrer Zweifel, würde es keinen Weg zurück geben. Die Geister würden sie holen. Sie hatten es bereits einmal versucht – vergeblich –, doch heute Nacht würde sie sich ihnen willentlich hingeben, falls sie auch Constant holen würden.
    Und Louis-Anatole wird in Sicherheit sein.
    Plötzlich ließ ein Schaben, ein Kratzen sie zusammenfahren. Sie schaute sich um, suchte nach der Ursache des Geräuschs, und merkte dann mit einem Seufzer der Erleichterung, dass es nur die kahlen Zweige der Bäume draußen waren, die gegen das Fenster schlugen.
    Léonie stellte die Lampe auf den Boden, entzündete ein zweites Streichholz, dann noch etliche mehr, und hielt sie an die alten Talgkerzen, die in den eisernen Wandhaltern befestigt waren. Erste Fetttropfen glitten an den starren Dochten herab und wurden auf dem kalten Eisen wieder hart, doch eine Kerze nach der anderen flammte auf, bis schließlich die Grabkapelle in gelbem, zuckendem Licht lag.
    Léonie ging weiter, wobei sie das Gefühl hatte, als würden die acht Standbilder in der Apsis jede ihrer Bewegungen beobachten. Sie trat zu der Stelle vor dem Altar, wo Jules Lascombe vor über einer Generation den Namen der Domaine auf den Steinboden geschrieben hatte. C-A-D-E.
    Ohne zu wissen, ob sie das Richtige tat oder nicht, nahm sie die Tarotkarten aus der Tasche, wickelte sie aus und legte den ganzen Stapel in die Mitte des Quadrats. Die Worte ihres toten Onkels hallten ihr durch den Kopf. Neben die Karten plazierte sie die Ledermappe, löste die Verschlussbänder, nahm die Gemälde aber nicht heraus.
    Durch deren Macht ich in eine andere Dimension gelangen würde.
    Léonie hob den Kopf. Ein Moment der Ruhe trat ein. Sie konnte den Wind draußen durch die Bäume rauschen hören. Noch immer stieg der Rauch ruhig von den Kerzen auf, aber sie meinte, schwache Musik zu vernehmen, hauchzarte Noten, ein fast unhörbares helles Pfeifen des Windes, der durch die Äste der Buchen und die Allee von Eiben strich. Und dann drang er ein, schlüpfte unter der Tür hindurch, durch die Ritze zwischen dem Blei und den Glasscheiben der Fenster.
    Ein Rauschen lag in der Luft, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
    Léonie lächelte, als ihr die Worte einfielen, die ihr Onkel geschrieben hatte. Sie fürchtete sich nicht mehr, sie war neugierig. Und als sie zu der achteckigen Apsis hinaufblickte, hatte sie für einen flüchtigen Moment den Eindruck, dass sich das Gesicht von La Force bewegte. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln zeigte sich auf dem gemalten Gesicht. Und einen kurzen Augenblick lang sah das Mädchen genauso aus wie sie – hatte die Gesichtszüge angenommen, die sie in ihre eigenen Versionen der Tarotbilder hineingemalt hatte. Das gleiche kupferrote Haar, die gleichen grünen Augen, der gleiche offene Blick.
    Mein Selbst und andere Formen meines Selbst, vergangene und zukünftige, waren gleichermaßen gegenwärtig.
    Nun nahm Léonie um sich herum Bewegung wahr. Geister, oder die Karten, die zum Leben erwacht waren, sie wusste es nicht. Die Liebenden nahmen unter ihren hoffnungsvollen und bereitwilligen Augen eindeutig die geliebten Züge von Anatole und Isolde an. Ganz kurz meinte Léonie, Louis-Anatoles Gesicht in dem Bild von La Justice durchschimmern zu sehen. Der Junge, den sie kannte, umfangen von den Umrissen dieser Frau auf der Karte, die da mit ihrer Waage und einem Notenkranz um den Saum ihres wallenden Kleides saß. Dann sah sie aus den Augenwinkeln und nur für eine Sekunde, wie sich die Gesichtszüge von Audric Baillard – Sajhë – auf das junge Antlitz von Le Pagad legten.
    Léonie blieb völlig regungslos stehen, ließ die Musik über sich hinwegrauschen. Es war, als bewegten sich die Gesichter, die Gewänder und Landschaften, als schwankten und flimmerten sie wie Sterne, als kreisten sie in der silbrigen Luft, auf der Bahn des unsichtbaren Stroms der Musik. Sie verlor jegliches Gefühl ihrer selbst. Ausdehnung, Raum, Zeit, Masse, alles verlor sich in Bedeutungslosigkeit.
    Die Vibrationen, das

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