Die achte Karte
auf.«
»Sie müssen das nicht tun«, sagte Baillard hastig. »Constant ist ein kranker Mann. Es ist möglich, dass die Zeit und der natürliche Lauf der Dinge diesen Rachefeldzug beenden, und zwar bald. Wenn Sie warten, könnte das alles von allein enden.«
»Es wäre möglich, ja«, stieß sie heftig hervor. »Aber das Risiko kann ich nicht eingehen. Es könnte noch drei Jahre dauern, fünf, sogar zehn. Louis-Anatole soll nicht unter so einem Schatten aufwachsen, immer in Angst, immer auf der Hut vor der Dunkelheit. In dem Gefühl, dass da draußen jemand ist und darauf lauert, ihm Schaden zuzufügen.«
Eine Erinnerung an Anatole, wie er in ihrer alten Wohnung in der Rue de Berlin am Fenster stand und nach unten auf die Straße starrte.
Eine andere, an Isoldes gehetztes Gesicht, das stets in die Ferne blickte, in den kleinsten Dingen Gefahr witterte.
»Nein«, sagte sie noch entschlossener. »Ich werde dafür sorgen, dass Louis-Anatole nicht so leben muss.« Sie lächelte. »Es muss ein Ende haben. Jetzt, heute Nacht, hier.« Sie holte tief Luft. »Und Sie selbst glauben das auch, Sajhë.«
Für einen Moment trafen sich ihre Blicke im flackernden Schein der Lampen. Dann nickte er.
»Ich werde die Karten an ihren angestammten Ort zurückbringen«, sagte er leise, »wenn der Junge in Sicherheit ist und mir keine Augen folgen. Sie können sich auf mich verlassen.«
»Tante Léonie?«, sagte Louise-Anatole erneut, diesmal ein wenig ängstlich.
»Petit,
ich habe hier noch etwas zu erledigen«, sagte sie mit bemüht ruhiger Stimme. »Deshalb kann ich jetzt nicht mit euch kommen. Pascal und Marieta und Monsieur Baillard werden gut auf dich aufpassen.«
Sein kleines Gesicht wurde weinerlich, und er streckte die Arme nach ihr aus, begriff instinktiv, dass dieser Abschied mehr war als nur vorübergehend.
»Nein!«, schrie er. »Ich will nicht fort von dir, Tante Léonie. Ich lass dich nicht allein.«
Er warf sich quer über den Sitz und schlang die Arme um Léonies Hals. Sie küsste ihn und streichelte sein Haar, dann löste sie sich entschlossen von ihm.
»Nein!«, schluchzte der Kleine und wollte sie festhalten.
»Sei lieb zu Marieta«, sagte sie mit bebender Stimme. »Und pass gut auf Monsieur Baillard und Pascal auf.«
Sie trat zurück und schlug mit der Hand auf die Seitenwand der Kutsche. »Fahrt«, schrie sie. »Fahrt los.«
Pascal ließ die Peitsche knallen, und das Gig fuhr mit einem Ruck an. Léonie versuchte, die Ohren gegen Louis-Anatoles Stimme zu verschließen, die tränenerstickt nach ihr rief und immer leiser wurde, je weiter sie sich entfernten.
Als sie das Rattern der Räder auf dem harten, frostigen Boden nicht länger hören konnte, wandte sie sich um und ging zur Tür der alten Steinkapelle. Blind vor Tränen umfasste sie den Eisengriff. Sie zögerte, drehte sich halb nach hinten und schaute über ihre Schulter. In der Ferne leuchtete und flackerte ein heller orangeroter Schein, erfüllt von Funken und Rauch, der grau in den Nachthimmel quoll.
Das Haus brannte.
Das genügte, um ihren Entschluss zu bestätigen. Sie drehte den Griff, stieß die Tür auf und trat über die Schwelle in die Grabkapelle.
Kapitel 97
∞
K alte, modrige Luft schlug ihr entgegen.
Léonie wartete, bis sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie zog eine Streichholzschachtel aus der Tasche, öffnete das Glastürchen der Lampe und hielt die Flamme an den Docht, bis er Feuer fing.
Die blauen Augen von Asmodeus richteten sich auf sie. Léonie trat weiter in den Mittelgang. Die Bilder an den Wänden schienen zu schwingen, zu schwanken und sich auf sie zuzubewegen, während sie langsam auf den Altar zuschritt. Körniger Staub auf den Bodenplatten knirschte in der Stille der Grabstätte laut unter ihren Stiefelsohlen.
Sie wusste nicht, was sie zuerst tun sollte. Die eine Hand schlüpfte zu den Karten in ihrer Tasche. In der anderen hielt sie die Ledermappe mit den gefalteten Blättern, die Gemälde, an denen sie sich versucht hatte – von ihr selbst, von Anatole, von Isolde – und von denen sie sich nicht hatte trennen wollen.
Sie hatte Monsieur Baillard endlich gestanden, dass sie, nachdem sie die Karten mit eigenen Augen gesehen hatte, mehrfach zu dem Buch ihres Onkels zurückgekehrt war und sich den handgeschriebenen Text eingeprägt hatte, bis sie ihn Wort für Wort auswendig konnte. Aber dennoch blieb ein Rest Zweifel an Monsieur Baillards Erklärung, das in den Karten gebannte
Weitere Kostenlose Bücher