Die achte Karte
Rascheln in der Luft, die Geister, so vermutete sie, streiften ihre Schultern und ihren Hals, hauchten über ihre Stirn, umringten sie sanft, freundlich, aber ohne sie je zu berühren. Ein lautloses Chaos baute sich auf, eine Kakophonie aus stummem Flüstern und Seufzen.
Léonie streckte die Arme vor sich aus. Sie fühlte sich schwerelos, durchscheinend, als schwebte sie in Wasser, obgleich ihr Kleid sie noch immer rot umhüllte, der Umhang schwarz um die Schultern hing. Sie warteten darauf, dass sie sich zu ihnen gesellte. Sie drehte die ausgestreckten Hände nach oben und sah ganz deutlich das Unendlichkeitssymbol auf der hellen Haut ihrer Handflächen erscheinen. Wie eine liegende Acht.
»Aïci lo tems s’en, va res l’Eternitat.«
Die Worte drangen ihr silbern über die Lippen. Jetzt, nachdem sie so lange gewartet hatte, war ihre Bedeutung unmissverständlich.
Hier, an diesem Ort, schreitet die Zeit hin zur Ewigkeit.
Léonie lächelte, und mit dem Gedanken an Louis-Anatole hinter ihr und an ihre Mutter, ihren Bruder und ihre Tante vor ihr – trat sie ins Licht.
Das Gerumpel über den holprigen Boden hatte ihm große Unannehmlichkeiten bereitet, und einige entzündete Stellen an Händen und Rücken waren dadurch aufgeplatzt. Er spürte den Eiter in die Verbände sickern.
Constant stieg aus der Kutsche.
Er bohrte seinen Gehstock in den Boden. Bis vor kurzem mussten hier zwei Pferde gestanden haben. Die Spuren der Räder deuteten auf eine einzige Kutsche hin und schienen nicht zur Grabkapelle zu führen, sondern sich eher davon zu entfernen.
»Warte hier«, befahl er.
Constant spürte einen eigenartig kräftigen Wind, der zwischen den engstehenden Stämmen der Eibenallee hindurchpfiff, die zur Tür der Grabstätte führte. Zum Schutz gegen die wirbelnde Luft zog er mit der freien Hand seinen Mantel fester um den Hals. Er schnupperte. Er konnte zwar kaum noch riechen, aber er nahm schwach einen unangenehmen Geruch wahr, eine seltsame Mischung aus Weihrauch und einem üblen Gestank wie von Seetang, der am Strand verfault.
Obwohl seine Augen vor Kälte tränten, sah er, dass im Innern Licht brannte. Der Gedanke, dass der Junge sich dort versteckt haben könnte, trieb ihn voran. Er ging los, ohne auf das Rauschen in der Luft zu achten, beinahe wie Wasser, und auch nicht auf das Pfeifen, wie Wind, der an Telegrafendrähten entlangjagt, oder das Vibrieren, wie von Eisenschienen, wenn ein Zug naht.
Es war fast wie Musik.
Er würde sich nicht ablenken lassen, ganz gleich welche Tricks Léonie Vernier anwenden würde, ob mit Licht oder Rauch oder Geräuschen.
Constant gelangte zu der schweren Tür und drückte die Klinke. Zuerst ließ sie sich nicht bewegen. Er vermutete, dass sie verriegelt oder mit Möbeln verbarrikadiert war. Trotzdem versuchte er es erneut. Diesmal öffnete sie sich unversehens. Constant hätte fast das Gleichgewicht verloren und stolperte in die Grabkapelle hinein.
Es sah sie sofort. Sie stand mit dem Rücken zu ihm vor einem kleinen Altar in einer achteckigen Apsis. Und sie machte keinerlei Anstalten, sich zu verbergen. Von dem Jungen war nichts zu sehen.
Mit vorgerecktem Kinn, die Augen hin und her huschend, ging Constant den Mittelgang entlang, wobei sein Stock auf die Steinplatten schlug und seine Füße ungelenk von einem Schritt in den nächsten fielen. Gleich neben der Tür befand sich ein leerer Sockel mit löchriger Oberfläche, als wäre eine Statue gewaltsam heruntergerissen worden. Auf dem Weg zum Altar sah er Heiligenfiguren aus Gips über den schlichten Reihen leerer Kirchenbänke ringsum an den Wänden stehen.
»Mademoiselle Vernier«, sagte er schneidend, irritiert von ihrer Unaufmerksamkeit.
Noch immer bewegte sie sich nicht. Ja, sie schien seine Anwesenheit gar nicht wahrzunehmen.
Constant blieb stehen und sah nach unten auf den Steinboden vor dem Altar, wo ein Stapel Karten verteilt lag. »Was sollen diese Albernheiten?«, fragte er und trat in das Quadrat.
Jetzt wandte Léonie sich um und sah ihn an. Die Kapuze glitt von ihrem Gesicht. Constant riss seine von der Krankheit gezeichneten Hände hoch, um sich gegen das Licht zu schützen. Das Lächeln erstarb auf seinen Lippen. Er verstand das nicht. Er konnte die Gesichtszüge der jungen Frau sehen, denselben unverwandten Blick, das Haar, das jetzt offen herabfiel wie auf der Fotografie, die er aus der Rue de Berlin gestohlen hatte, aber sie war in etwas anderes verwandelt worden.
Während er dastand,
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