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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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gebannt und geblendet, begann sie sich zu verändern. Die Knochen, die Sehnen, der Schädel unter der Haut, all das schien unter dem Gesicht hervorzutreten.
    Constant schrie auf.
    Irgendetwas stürzte sich auf ihn, und die Stille, die er nicht als Stille erkannt hatte, zerbrach in einer Kakophonie aus Schreien und Heulen. Er presste die Hände auf die Ohren, damit die Wesen nicht in seinen Kopf drangen, doch seine Finger wurden von Klauen und Krallen weggerissen, ohne eine Spur auf ihm zu hinterlassen.
    Es schien, als wären die gemalten Gestalten von der Wand herabgestiegen, jede einzelne verwandelt in eine dunklere Version ihres schöneren Selbst. Fingernägel wurden zu Krallen, Finger zu Klauen, Augen zu Feuer und Eis. Constant senkte den Kopf auf die Brust und ließ seinen Stock fallen, während er die Arme zum Schutz vors Gesicht hob. Er stürzte auf die Knie und schnappte nach Luft, weil sein Herz aus dem Rhythmus geriet. Er versuchte, sich vorwärtszubewegen, hinaus aus dem Quadrat auf dem Boden, doch eine unsichtbare Kraft drängte ihn wie ein mächtiger Wind wieder zurück. Das Heulen, das Vibrieren der Musik wurde lauter. Es schien von außen wie von innen zu kommen, hallte in seinem Kopf wider. Zerriss seinen Verstand.
    »Nein!«, schrie er.
    Doch die Stimmen wurden stärker und eindringlicher. Verständnislos blickte er suchend zu Léonie. Er konnte sie nicht mehr sehen. Das Licht war zu grell, und die Luft drum herum schimmerte wie weißglühender Rauch.
    Dann ertönte hinter ihm oder eher unter der Oberfläche seiner Haut ein anderes Geräusch. Ein Kratzen, als schabten die Klauen eines wilden Tieres an seinen Knochen entlang. Er zuckte und bäumte sich auf, stieß ein qualvolles Brüllen aus und fiel dann in einem Luftstoß zu Boden.
    Und plötzlich hockte ein Dämon auf seiner Brust, nach Fisch und Pech stinkend, hager und gekrümmt, mit roter ledriger Haut, einer gehörnten Stirn und seltsamen blauen Augen. Der Dämon, von dem er wusste, dass er nicht existieren konnte. Dass er nicht existierte. Und doch starrte das Gesicht von Asmodeus auf ihn herab.
    »Nein!« Sein Mund öffnete sich zu einem letzten heulenden Schrei, ehe der Teufel ihn holte.
    Sogleich war die Luft in der Grabkapelle von Stille erfüllt. Das Flüstern und Seufzen der Geister wurde schwächer, bis schließlich kein Laut mehr zu hören war. Die Karten lagen verstreut auf dem Boden. Die Gesichter an den Wänden wurden wieder flach und zweidimensional, doch ihre Mienen und Haltungen hatten sich kaum merklich verändert. Jedes trug jetzt eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Menschen, die auf der Domaine de la Cade gelebt hatten – und dort gestorben waren. Wie Léonies Gemälde.
     
    Draußen auf der Lichtung hatte Constants Diener sich zum Schutz vor dem Wind, dem Rauch und dem Licht hingekauert. Er hatte seinen Herrn schreien hören, einmal, dann noch einmal. Bei dem unmenschlichen Klang war er vor Angst wie erstarrt gewesen.
    Erst jetzt, als alles wieder still war und das Licht in der Grabkapelle sich beruhigt hatte, brachte er den Mut auf, sein Versteck zu verlassen. Langsam näherte er sich der schweren Tür und sah, dass sie einen Spalt offen stand. Seine zögernde Hand spürte keinen Widerstand.
    »Monsieur?«
    Er trat ein. »Monsieur?«, rief er erneut.
    Ein Luftzug, wie ein Ausatmen, trieb in einem einzigen, kalten Hauch den Rauch aus der Kapelle, und der Raum bot sich seinem Blick im Licht einer einzigen Lampe dar.
    Sofort erblickte er den Körper seines Herrn. Er lag mit dem Gesicht nach unten vor dem Altar auf dem Boden, ein Packen Spielkarten um ihn herum verteilt. Der Diener eilte zu ihm und drehte die magere Gestalt seines Herrn auf den Rücken, dann sprang er zurück. Quer über Constants Gesicht verliefen drei tiefrot klaffende Wunden, wie grausame Verletzungen durch ein wildes Tier.
    Wie von Krallen. Wie die Wunden, die er den von ihnen getöteten Kindern zugefügt hatte.
    Der Mann bekreuzigte sich unwillkürlich und beugte sich vor, um seinem Herrn die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zu schließen. Doch seine Hand verharrte in der Luft, als er die rechteckige Karte sah, die auf Constants Brust lag, über dem Herzen. Le Diable.
    War sie die ganze Zeit da gewesen?
    Verwundert schob der Diener seine Hand in die Tasche, in die er, das hätte er schwören können, die Karte gesteckt hatte, nachdem sein Herr ihn angewiesen hatte, sie zu der Leiche von Curé Gélis in Coustaussa zu legen. Die Tasche war

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