Die achte Karte
es nicht, wissen Sie«, fügte das Mädchen hinzu. »Nichts geschieht ohne Grund.«
Meredith nickte, unwillig, das einseitige Gespräch fortzusetzen, und ging weiter, das Handy noch immer fest in der Hand. An der nächsten Ecke blieb sie stehen. Das Mädchen stand noch immer an derselben Stelle und sah ihr nach.
»Sie sehen wirklich aus wie sie«, rief sie ihr hinterher. »Nur fünf Minuten von hier. Im Ernst, Sie sollten hingehen.«
Kapitel 12
M eredith vergaß die Broschüre in ihrer Jackentasche. Sie rief die Nummer an, deren Anruf sie verpasst hatte – bloß ihr französisches Reisebüro, das die Hotelreservierung bestätigte –, und ließ sich dann sicherheitshalber noch einmal telefonisch von der Fluggesellschaft ihre Abflugzeit am kommenden Tag bestätigen.
Als sie um sechs wieder ins Hotel kam, war sie müde, und ihr taten die Füße weh von der ganzen Latscherei durch die Stadt. Sie lud ihre Fotos auf die Festplatte des Laptops und machte sich daran, die Notizen der letzten drei Tage einzutippen. Um halb zehn holte sie sich in der Brasserie ein Sandwich und aß es auf ihrem Zimmer, während sie weiterarbeitete. Um elf war sie fertig. Alles wieder auf dem neuesten Stand.
Sie stieg ins Bett und schaltete den Fernseher ein. Nachdem sie eine Weile auf der Suche nach den vertrauten Stimmen von CNN die Sender durchgezappt, aber nur einen französischen Krimi auf FR 3 mit einem verschwommenen Bild,
Columbo
auf TF 1 und einen als Kunst getarnten Porno auf Antenne 2 gefunden hatte, gab sie auf und las lieber noch ein bisschen, bevor sie das Licht ausschaltete.
Meredith lag im behaglichen Halbdunkel des Zimmers, die Hände über dem Kopf und die Zehen tief unter der frischen weißen Bettwäsche vergraben. Sie schaute an die Decke und dachte zurück an das Wochenende, als Mary ihr das wenige erzählt hatte, was sie über ihre leibliche Familie wusste.
Das Pfister Hotel, Milwaukee, Dezember 2000 . Ins Pfister gingen sie, wenn es in der Familie etwas zum Feiern gab – Geburtstage, Hochzeiten, sonstige Anlässe –, und normalerweise nur zum Abendessen, aber diesmal hatte Mary Zimmer für das ganze Wochenende gebucht, ein verspätetes Geschenk für Merediths Geburtstag und zu Thanksgiving und auch, um schon mal ein paar Weihnachtseinkäufe zu machen.
Die dezent elegante Atmosphäre des 19 . Jahrhunderts, die Farben, der Fin-de-Siècle-Stil, die vergoldeten Zierleisten, die Säulen, die gusseisernen Balustraden und die edlen weißen Netzgardinen an den Glastüren. Meredith war allein nach unten in das Café in der Lobby gegangen, um auf Bill und Mary zu warten. Sie machte es sich auf einem tiefen Sofa bequem und bestellte ihr erstes legales Glas Wein, einen Sonoma Cutter Chardonnay – 7 , 50 Dollar, aber jeden Cent wert. Weich, sattgelb mit einem Hauch Eichenfassaroma.
Schon verrückt, dass sie sich ausgerechnet daran erinnerte.
Draußen hatte es angefangen zu schneien. Dicht und stetig fielen die Flocken aus einem weißen Himmel und bedeckten die Welt mit Stille. An der Bar eine alte Lady mit einem roten Mantel und einer Wollmütze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Sie schrie den Barkeeper an. »Sprich mit mir! Wieso sprichst du nicht mit mir?«, und Meredith musste an die Frau in Eliots
The Waste Land
denken. Die anderen Gäste an der Bar tranken Miller Genuine vom Fass, zwei junge Männer hatten je eine Flasche Sprecher Amber und Riverwest Stein vor sich stehen. Genau wie Meredith ignorierten sie die Verrückte geflissentlich.
Meredith hatte sich frisch von ihrem Freund getrennt und war daher froh, mal eine Woche von der Uni wegzukommen. Er war Gastdozent für Mathematik an der UNC , und sie waren gleichsam in eine Affäre hineingerutscht. Eine Haarsträhne, die er ihr in einer Bar aus dem Gesicht streicht. Er auf dem Rand des Klavierhockers, während sie spielt. Eine Hand, die sich spätabends im Dunkeln zwischen den Regalen der Bibliothek wie nebenbei auf ihre Schulter legt. Sie hatten nie irgendwelche Zukunftspläne geschmiedet – sie wollten unterschiedliche Dinge vom Leben –, und Meredith war nicht unbedingt tieftraurig. Aber der Sex war toll gewesen, und die Beziehung hatte ihr gutgetan.
Dennoch, es war schön, wieder zu Hause zu sein.
Sie unterhielten sich viel während des kalten, verschneiten Wochenendes. Meredith stellte Mary zahllose Fragen über das Leben und den frühen Tod ihrer leiblichen Mutter, fragte alles, was sie schon immer hatte wissen wollen, aber sich nicht
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