Die achte Karte
getraut hatte zu fragen. Die Umstände ihrer Adoption, der Selbstmord ihrer Mutter, die Erinnerungen, schmerzhaft wie Glassplitter unter der Haut.
Die wesentlichen Fakten waren Meredith bekannt. Ihre leibliche Mutter Jeanette war von einer Partybekanntschaft schwanger geworden und hatte es erst gemerkt, als es für einen Abbruch bereits zu spät war. In den ersten Jahren hatte Jeanette Unterstützung durch ihre Mutter Louisa erhalten, die jedoch an Krebs erkrankte und überraschend schnell starb, wodurch Meredith einer verlässlichen und stabilen Größe in ihrem Leben beraubt wurde. Danach verschlechterte sich die Lage rapide. Als sie schließlich katastrophal wurde, schaltete sich Mary ein – eine entfernte Cousine von Jeanette –, und irgendwann war klar, dass Meredith schon aus Sicherheitsgründen nicht zu ihrer Mutter zurückkonnte. Zwei Jahre später brachte Jeanette sich um, und Meredith wurde von Mary und ihrem Mann Bill adoptiert. Sie behielt zwar ihren Nachnamen und sprach Mary weiterhin mit dem Vornamen an, wie sie das immer getan hatte, aber sie konnte Mary nun endlich als ihre Mutter betrachten.
Im Pfister Hotel hatte Mary ihr dann die Fotos und das Klavierstück gegeben. Auf dem ersten Foto war ein junger Mann in Soldatenuniform auf einem Dorfplatz zu sehen. Schwarzes, lockiges Haar, graue Augen und offener Blick. Es stand kein Name dabei, nur das Datum, 1914 , der Fotograf und der Ort, Rennes-les-Bains, waren auf der Rückseite abgedruckt. Das zweite zeigte ein kleines Mädchen in altmodischer Kleidung. Kein Name, kein Datum, kein Ort. Auf dem dritten war eine Frau abgebildet, von der Meredith wusste, dass es ihre Großmutter Louisa Martin war. Sie saß an einem Konzertflügel, und der Kleidung nach war die Aufnahme Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre entstanden. Laut Mary war Louisa eine recht erfolgreiche Konzertpianistin gewesen. Das Musikstück in dem Umschlag hatte zum Repertoire ihrer Konzerte gehört. Sie hatte es immer als Zugabe gespielt.
Als sie sich das Foto zum ersten Mal angesehen hatte, hatte Meredith sich gefragt, ob sie mit der Musik vielleicht nicht aufgehört hätte, wenn sie früher von Louisa gewusst hätte. Sie wusste es nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, ihre leibliche Mutter Jeanette je Klavier spielen oder singen gehört zu haben. Sie erinnerte sich nur an die Wutanfälle, das Weinen und das, was danach kam.
Musik war in Merediths Leben gekommen, als sie acht Jahre alt war, das hatte sie zumindest geglaubt. Die Erkenntnis, dass sie schon immer da gewesen war, versteckt unter der Oberfläche, änderte die Geschichte. An jenem verschneiten Wochenende im Dezember 2000 hatte sich Merediths Welt verschoben. Die Fotos und die Musik wurden zu einem Anker, der sie mit der Vergangenheit verband, und sie wusste, dass sie sich eines Tages auf die Suche nach dieser Vergangenheit machen würde.
Sieben Jahre später war es endlich so weit. Morgen würde sie in Rennes-les-Bains sein, an einem Ort, den sie sich so viele Male vorgestellt hatte. Sie hoffte nur, dass sie dort etwas finden würde.
Sie sah auf ihr Handy. Zwölf Uhr zweiunddreißig. Sie lächelte.
Nicht morgen, heute.
Als Meredith am Morgen erwachte, war ihre nächtliche Anspannung verflogen. Sie freute sich darauf, aus der Stadt hinauszukommen. Was auch immer sie erreichen würde, ein paar erholsame Tage in den Bergen waren jetzt auf jeden Fall genau das Richtige für sie.
Ihr Flug nach Toulouse ging erst am späten Nachmittag. Sie hatte alles abgearbeitet, was sie sich für Paris vorgenommen hatte, und wollte vor ihrer Abreise nicht unbedingt noch etwas Neues anfangen, daher las sie noch ein Weilchen im Bett, stand dann auf und gönnte sich in ihrer Stammbrasserie draußen in der Sonne ein spätes Frühstück, ehe sie losging, um sich ein paar der üblichen Touristenattraktionen anzuschauen.
Sie bummelte unter den Arkaden der Rue de Rivoli durch Sonne und Schatten, wich Scharen von Rucksacktouristen und Reisegruppen auf den Spuren von Dan Browns
Sakrileg
aus. Sie schaute sich die Pyramide am Louvre an, doch die lange Schlange vor dem Eingang schreckte sie ab.
In den Tuilerien setzte sie sich auf einen grünen Metallstuhl und ärgerte sich, dass sie sich nichts Leichteres angezogen hatte. Es war schwülwarm, eigentlich verrückt für Ende Oktober. Sie liebte die Stadt, aber heute war die Luft unangenehm stickig, voller Staub, Autoabgasen und Zigarettenqualm von den Straßencafés. Sie überlegte,
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