Die achte Karte
zur Seine zu gehen und eine Fahrt mit einem Bateau-Mouche zu machen. Oder sollte sie Shakespeare & Co. einen Besuch abstatten, dem legendären Buchladen an der Rive Gauche, nahezu ein Muss für alle Amerikaner, die Paris besuchten? Aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen. Im Grunde wollte sie den Touristenkram abklappern, ohne sich dabei unter die Touristen mischen zu müssen.
Das meiste von dem, was sie gern gesehen hätte, hatte ohnehin geschlossen, also besann sie sich wieder auf Debussy und beschloss, noch einmal zum Haus seiner Kindheit in der Rue de Berlin anno 1890 zu gehen. Sie band sich die Jacke um die Taille und marschierte mit forschen Schritten los. Inzwischen fand sie sich auch ganz gut ohne Stadtplan zurecht und entschied sich diesmal für eine andere Route. Nach fünf Minuten blieb sie stehen, schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte hoch, um das Emailleschild mit dem Straßennamen zu lesen.
Sie hob die Brauen. Unabsichtlich war sie auf der Rue de la Chaussée d’Antin gelandet. Sie schaute die Straße hinunter. Zu Debussys Zeit hatte sich das berüchtigte Cabaret La Grande-Pinte am Ende der Straße befunden, nicht weit vom Place de la Trinité. Ein Stück weiter war das berühmte Hôtel-Dieu aus dem 17 . Jahrhundert. Und am Anfang der Straße, ganz in der Nähe der Stelle, wo sie jetzt stand, lag Edmond Baillys bekannter esoterischer Buchladen. Hier hatten sich in der guten alten Zeit der Jahrhundertwende Dichter, Okkultisten und Komponisten getroffen, um über neue Ideen zu diskutieren, über Mystizismus und alternative Welten. In Baillys Buchladen hatte sich der reizbare junge Debussy bestimmt nie erklären müssen.
Meredith überprüfte die Hausnummer.
Sogleich verpuffte ihre Begeisterung. Sie stand genau da, wo sie stehen musste – nur dass es nichts mehr zu sehen gab. Es war dasselbe Problem, das ihr schon am Wochenende zu schaffen gemacht hatte. Neue Gebäude hatten alte ersetzt, neue Straßen waren gebaut, alte Adressen vom gnadenlosen Fortschreiten der Zeit verschlungen worden.
Rue de la Chaussée d’Antin Nummer 2 war jetzt ein gesichtsloses Betongebäude. Es gab keinen Buchladen. Es gab nicht einmal eine Gedenktafel an der Mauer.
Dann bemerkte Meredith eine schmale, tief in die Mauer eingelassene Tür, die von der Straße kaum zu sehen war. An ihr befestigt war ein buntes handgemaltes Schild.
SORTILÈGE .
Tarot readings.
Darunter in kleineren Buchstaben: »Französisch und Englisch.«
Ihre Hand fuhr zur Innentasche ihrer Jeansjacke. Sie ertastete das Faltblatt, die Broschüre, die sie gestern von dem Mädchen bekommen und völlig vergessen hatte. Sie zog sie heraus und blickte auf das Bild. Es war eine unscharfe, schlechte Fotokopie, aber die Ähnlichkeit war unbestreitbar.
Sie sieht aus wie ich.
Meredith schielte wieder zu dem Schild. Jetzt stand die Tür auf. Wie von jemandem offen gelassen, der herausgeschlüpft war, als sie nicht hingesehen hatte. Sie trat einen Schritt näher und spähte hinein. Sie sah einen kleinen Empfangsbereich mit lila Wänden, die mit Sternen, Monden und astrologischen Symbolen bemalt waren. An der Decke kreisten Mobiles aus Kristallen oder Glas, das konnte sie nicht genau erkennen, und brachen das Licht.
Meredith riss sich zusammen. Astrologie, Kristalle, Wahrsagerei, davon hielt sie nichts. Sie las nicht mal ihr Horoskop in der Zeitung, im Gegensatz zu Mary, die das treu und brav jeden Morgen bei ihrer ersten Tasse Kaffee tat. Es war ein richtiges Ritual.
Meredith konnte das nicht nachvollziehen. Die Vorstellung, die Zukunft sei irgendwie vorgegeben, festgelegt, kam ihr verrückt vor. Es war zu fatalistisch, als würde man die Verantwortung für das eigene Leben abgeben.
Ungehalten mit sich selbst, trat sie von der Tür zurück. Wieso stand sie überhaupt noch hier? Sie sollte weitergehen. Die Broschüre vergessen.
Es ist albern. Purer Aberglaube.
Doch gleichzeitig hielt sie irgendetwas zurück. Sie war interessiert, zugegeben, aber ihr Interesse war eigentlich nicht emotional, sondern eher akademischer Natur. Die Ähnlichkeit mit dem Bild? Der Zufall mit der Adresse? Sie wollte hineingehen.
Sie trat wieder näher. Von der kleinen Lobby führte eine schmale Treppe nach oben, die Stufen abwechselnd rot und grün gestrichen. Oben konnte sie hinter einem Vorhang aus gelben Holzperlen eine zweite Tür erkennen. Himmelblau.
So viele Farben.
Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass manche Menschen Musik im Kopf auch als Farben
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