Die achte Karte
wahrnahmen. Synästhesie? Hieß das so?
Drinnen war es kühl. Ein ratternder alter Ventilator über der Tür mühte sich redlich. Staubpartikel tanzten in der trägen Oktoberluft. Wenn sie wirklich ein wenig Jahrhundertwendeatmosphäre schnuppern wollte, was konnte ihr dann Besseres passieren, als eine Erfahrung zu machen, wie sie genau hier auch vor hundert Jahren hätte angeboten werden können?
Im Grunde ist es wissenschaftliche Recherche.
Einen Moment lang hing alles in der Schwebe. Es schien, als würde sogar das Gebäude den Atem anhalten. Warten, beobachten. Mit der Broschüre fest in der Hand wie einen Talisman trat Meredith ein. Dann setzte sie den Fuß auf die unterste Stufe und ging nach oben.
Viele hundert Meilen südlich von Paris, in den Buchenwäldern oberhalb von Rennes-les-Bains, hebt ein jäher Windhauch die kupferroten Blätter der uralten Bäume. Das Geräusch eines längst verklungenen Seufzers, als bewegten sich Finger federleicht über eine Klaviatur.
Enfin.
Die Veränderung des Lichts auf der Biegung einer anderen Treppe.
Kapitel 13
Domaine de la Cade
O ui, Abbé, et merci à vous pour votre gentillesse. A tout à l’heure.«
Julian Lawrence hielt den Telefonhörer noch einen Moment in der Hand, bevor er auflegte. Er war braungebrannt und durchtrainiert und sah jünger aus als seine fünfzig Jahre. Er zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche, klappte sein Zippo-Feuerzeug auf und zündete sich eine Gauloises an. Der vanillige Rauch kringelte sich in die reglose Luft.
Sämtliche Vorkehrungen für den abendlichen Trauergottesdienst waren getroffen. Wenn sich nun auch noch sein Neffe Hal ordentlich benahm, müsste eigentlich alles glattgehen. Er hatte ja Verständnis für den Jungen, aber es war peinlich, dass Hal überall im Ort Fragen nach dem Unfall seines Vaters stellte. Dinge aufwühlte. Er hatte sich sogar an die Gerichtsmedizin gewandt, um sich die auf dem Totenschein eingetragene Todesursache näher erläutern zu lassen. Da der zuständige Beamte im Polizeikommissariat von Couiza ein Freund von Julian war – und die einzige Zeugin des Vorfalls eine ortsbekannte Trinkerin –, wurde die Sache diskret behandelt. Hals Fragen betrachtete man als die verständliche Reaktion eines trauernden Sohnes, nicht als ernstzunehmende Kommentare.
Dennoch, Julian würde drei Kreuze machen, wenn der Junge wieder weg war. Es gab nichts aufzudecken, doch Hal bohrte hartnäckig weiter, was in einem Städtchen wie Rennes-les-Bains früher oder später zu Gerede führen musste. Kein Rauch ohne Feuer. Julian hoffte inständig, dass Hal unmittelbar nach der Beerdigung die Domaine de la Cade verlassen und nach England zurückkehren würde.
Julian und sein Bruder Seymour, Hals Vater, hatten das Hotel vor vier Jahren gemeinsam gekauft. Der um zehn Jahre ältere Seymour, dem in London langweilig geworden war, seit er sich als Investmentbanker zur Ruhe gesetzt hatte, hatte sich mit großem Elan auf Gewinnprognose, Tabellenkalkulationen und Expansionspläne konzentriert. Julians Hauptinteresse war anders gelagert gewesen.
Schon als er die Gegend 1997 zum ersten Mal bereist hatte, hatten ihn die Gerüchte fasziniert, die Rennes-les-Bains im Allgemeinen und der Domaine de la Cade im Besonderen anhafteten. Die gesamte Region war umweht von Geheimnissen und Legenden: angebliche vergrabene Schätze, Verschwörungen, Ammenmärchen von Geheimbünden, was das Herz begehrte, von den Templern und Katharern bis hin zu den Westgoten, Römern und Kelten. Aber die eine Geschichte, die Julian aufmerken ließ, war jünger. Schriftliche Aufzeichnungen vom Ende des vorigen Jahrhunderts, in denen es um eine entweihte Grabkapelle auf dem Gelände der Domaine de la Cade ging, um einen Satz Tarotkarten, die angeblich als eine Art Schatzkarte gemalt worden waren, und um das Feuer, das Teile des Originalhauses zerstört hatte.
Die Gegend um Couiza und Rennes-le-Château lag im fünften Jahrhundert im Herzen des Westgotenreiches. Das war allgemein bekannt. Immer wieder hatten Historiker und Archäologen gemutmaßt, der sagenhafte Schatz, den sich die Westgoten bei der Plünderung Roms unter den Nagel gerissen hatten, sei in den Südwesten Frankreichs gebracht worden. Dort verlor sich die Spur. Aber je mehr Julian herausfand, desto fester wurde seine Überzeugung, dass der größte Teil des Westgotenschatzes noch immer hier irgendwo seiner Entdeckung harrte. Und dass die Karten – die Originale, nicht irgendwelche
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