Die achte Karte
vielleicht schneller zu Fuß …« Das Hausmädchen schaute skeptisch nach unten auf Léonies Kalbslederstiefel. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht …«
Anatole musterte das Mädchen von oben bis unten. »Und du bist?«
»Marieta, Senhér.«
»Sehr gut. Und wie lange müssen wir warten, bis das Gig repariert ist, Marieta?«
»Das kann ich nicht sagen. Ein Rad ist gebrochen.«
»Nun, wie weit ist es denn bis zur Domaine de la Cade?«
»
Pas luènh.«
Nicht weit.
Anatole sah über ihre Schulter zu dem atemlosen jungen Mann hinüber. »Und das Gepäck wird uns hinterhergebracht?«
»Oc,
Senhér«, sagte sie. »Pascal erledigt das.«
Anatole wandte sich Léonie zu. »Wenn das so ist, würde ich in Ermangelung einer besseren Alternative sagen, wir folgen dem Vorschlag unserer Tante – und gehen zu Fuß.«
»Was?« Das Wort flog über Léonies empörte Lippen, bevor sie sich bremsen konnte. »Aber du gehst so ungern zu Fuß!« Sie legte ihre Finger an die eigenen Rippen, um ihn an seine Verletzungen von dem Überfall zu erinnern. »Außerdem, wird das nicht zu beschwerlich für dich?«
»Ich schaffe das schon.« Er zuckte die Achseln. »Zugegeben, es ist ärgerlich, aber was sollen wir machen? Ich würde lieber gehen, als hier herumzutrödeln.«
Marieta, die Anatoles Worte als Einverständnis auffasste, machte einen knappen Knicks, drehte sich um und marschierte los.
Léonie starrte ihr mit offenem Mund hinterher. »Das darf doch wohl …«, rief sie.
Anatole warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Willkommen in Rennes-les-Bains«, sagte er und nahm Léonies Hand. »Komm,
petite.
Sonst werden wir hier noch vergessen!«
Marieta führte sie in einen schattigen Durchgang zwischen den Häusern. Auf der anderen Seite traten sie in das helle Sonnenlicht auf eine alte steinerne Bogenbrücke. Tief, tief unter ihnen floss das Wasser über flache Steine. Léonie stockte der Atem, und das Gefühl von Licht und Weite und Höhe machte sie schwindelig.
»Léonie,
dépêches-toi«,
rief Anatole.
Das Hausmädchen überquerte den Fluss, bog dann scharf nach rechts auf einen Trampelpfad, der steil zwischen den Bäumen des Waldhanges hinaufführte. Léonie und Anatole folgten ihr hintereinander, schweigend, um beim Anstieg nicht außer Atem zu kommen.
Je höher sie kamen, desto steiler wurde der unwegsame Pfad, führte über Steine und altes Laub tiefer in den dichten Wald. Nach einiger Zeit weitete er sich zu einer Art Feldweg. Léonie sah tiefe Wagenspuren, die, rissig und fahl vom Regenmangel, von zahllosen Rädern und Hufen gegraben worden waren. Hier standen die Bäume weiter vom Wegrand entfernt, und die Sonne warf lange verblassende Schatten zwischen Büsche und Sträucher.
Léonie wandte sich um und blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Jetzt konnte sie steil unterhalb von ihnen, aber noch immer recht nah, die roten und grauen Schrägdächer von Rennes-les-Bains sehen. Sie konnte sogar die Hotels und den zentralen Platz erkennen, auf dem sie ausgestiegen waren. Das Wasser schimmerte und lockte, ein Band, glatt wie Seide, aus Grün und Silber und sogar Rot, wo sich das Herbstlaub spiegelte.
Nach einer leichten Senke im Pfad erreichten sie ein Plateau.
Vor ihnen erhoben sich die Steinsäulen und das Tor eines Landgutes. Ein schmiedeeisernes Gitter erstreckte sich, so weit das Auge reichte, flankiert von Tannen und Eiben. Das Anwesen wirkte abschreckend und unnahbar zugleich. Léonie fröstelte. Für einen Moment hatte ihre Abenteuerlust sie verlassen. Sie erinnerte sich an den Widerwillen ihrer Mutter, über die Domaine und die Kindheit, die sie dort verbracht hatte, zu sprechen. Und dann klangen ihr Dr. Gabignauds Worte beim Mittagessen in den Ohren.
Ein so unheilvoller Ruf.
»Cade?«,
erkundigte sich Anatole.
»Das ist ein einheimisches Wort für Wacholder, Sénher«, erwiderte das Mädchen.
Léonie sah zu ihrem Bruder hinüber, trat dann entschlossen vor und legte beide Hände an den Zaun, wie eine Gefangene hinter Gittern. Sie presste ihre glühenden Wangen an das von der Sonne erhitzte Eisen und spähte hindurch auf die dahinterliegenden Gärten.
Alles war in Halbdunkel gehüllt, gedämpftes Grün, hier und da Sonnenflecken, die durch einen Baldachin von Blättern drangen. Holunderbäume, Büsche, gestutzte Hecken und ehemals geschmackvolle Beete waren ungepflegt und trist. Das Anwesen wirkte malerisch vernachlässigt, noch nicht ganz verfallen, aber auch nicht mehr auf
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