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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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sich zurück.
    Léonie sah sich mit Wohlgefallen in dem Raum um, der nun für vier Wochen ihr Zuhause sein würde. Es war ein gut ausgestattetes Zimmer, schön und behaglich, mit Blick auf die Rasenflächen im Süden des Anwesens. Das Fenster stand offen, und sie hörte von unten das leise Klappern von Geschirr und Porzellan, als die Dienstboten den Tisch abräumten.
    Die zarte Tapete hatte ein rosa und lila Blumenmuster, das zu den Vorhängen und der Bettwäsche passte und alles hell und freundlich wirken ließ, trotz der dunklen Mahagonimöbel. Das Bett – mit Abstand das größte, das Léonie je gesehen hatte – stand wie eine ägyptische Barke mitten im Raum, und seine kunstvoll geschnitzten Kopf- und Fußteile waren auf Hochglanz poliert. Auf dem Nachtschränkchen mit Klauenfüßen gleich daneben standen eine Kerze in einem Messingständer, ein Glas und ein Krug Wasser, über den eine bestickte weiße Serviette gebreitet war, um Fliegen fernzuhalten. Léonie sah auch ihren Handarbeitskasten dort stehen, neben ihrem Zeichenbuch und ihren Malutensilien. Ihre Reisestaffelei lehnte am Nachtschränkchen.
    Léonie ging durchs Zimmer zu einem großen Kleiderschrank. Die Umrandung war kunstvoll mit den gleichen ägyptischen Schnitzornamenten versehen, und in die Türen waren zwei lange Spiegel eingelassen, die den Raum hinter ihr widerspiegelten. Sie öffnete die rechte Tür, was die Kleiderbügel zum Klappern brachte, und betrachtete ihre Unterröcke, Nachmittagskleider, Abendkleider und Jacken, die ordentlich in einer Reihe hingen. Alles war ausgepackt worden.
    In der großen Kommode neben dem Kleiderschrank entdeckte sie ihre Unterwäsche und kleinere Kleidungsstücke, Bettjäckchen, Korsetts, Blusen, Strümpfe, alles akkurat in den tiefen, schweren Schubladen verstaut, die nach frischem Lavendel dufteten.
    Der Kamin befand sich an der Wand gegenüber der Tür, und darüber hing ein Spiegel mit Mahagonirahmen. Mitten auf dem Kaminsims stand eine vergoldete Sèvres-Uhr aus Porzellan, fast wie die bei ihnen daheim im Salon.
    Léonie zog ihr Kleid aus, die Baumwollstrümpfe, die Hemdhose und das Korsett. Sie breitete die Sachen so über den Sessel, dass sie bis auf den Teppich hingen. Nur in Hemd und Unterwäsche goss sie dampfendes Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel. Sie wusch sich Gesicht und Hände, tupfte etwas Wasser in die Achselhöhlen und in die Vertiefung zwischen ihren Brüsten. Als sie fertig war, nahm sie ihren blauen Morgenmantel von dem Bügel an dem schweren Messinghaken an der Rückseite der Tür und setzte sich dann an den Frisiertisch vor dem mittleren der drei hohen Flügelfenster.
    Metallnadel um Metallnadel löste sie ihr widerspenstiges kupferrotes Haar, ließ es bis zur ihrer schlanken Taille herabfallen, drehte den Spiegel in ihre Richtung und begann, es mit langen, gleichmäßigen Strichen zu bürsten, bis es wie ein glattgewellter Strang Seide auf ihrem Rücken lag.
    Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung unten im Garten wahr.
    »Anatole«, murmelte sie, fürchtete, dass ihr Bruder vielleicht doch noch Isoldes Bitte missachtet hatte, das Haus nicht zu verlassen.
    Hoffentlich nicht.
    Sie schob das beklemmende Gefühl beiseite, legte die Bürste auf die Frisierkommode und trat an das mittlere Fenster.
    Die letzten Spuren des Tages waren fast gänzlich vom Himmel verschwunden. Als ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, bemerkte sie eine weitere Bewegung, diesmal an der hinteren Grenze des Rasens, vor der hohen Buchsbaumhecke jenseits des Sees.
    Jetzt konnte sie deutlich eine Gestalt ausmachen. Sie war barhäuptig und hatte einen verstohlenen Gang, drehte sich alle paar Schritte um und schaute nach hinten, als meinte sie, verfolgt zu werden.
    Ein Täuschung des Lichts?
    Die Gestalt verschwand im Schatten. Léonie glaubte, unten aus dem Tal das Schlagen einer Kirchenglocke zu hören, ein einzelner dünner und düsterer Ton, aber als sie die Ohren spitzte, vernahm sie lediglich die abendlichen Geräusche der Natur. Das Raunen des Windes in den Bäumen und den vielstimmigen Dämmerungsgesang der Vögel. Dann den durchdringenden Schrei einer Eule, die zur nächtlichen Jagd aufbrach.
    Léonie merkte, dass sie Gänsehaut an den nackten Armen bekommen hatte, und so schloss sie schließlich den Fensterflügel und trat zurück.
    Nach kurzem Zögern zog sie die Vorhänge zu. Die Gestalt war gewiss einer der Gärtner gewesen, der etwas getrunken hatte, oder irgendein Junge, der als

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