Die achte Karte
Mutprobe eine verbotene Abkürzung durch den Garten nahm, aber irgendwie hatte der Anblick etwas Widerwärtiges gehabt, etwas Bedrohliches. In Wahrheit erfüllte es sie mit Unbehagen, dass sie die Gestalt überhaupt gesehen hatte. Es beunruhigte sie.
Plötzlich zerriss ein lautes Klopfen an der Tür die Stille im Raum.
»Wer ist da?«, schrie sie.
»
C’est moi«,
rief Anatole zurück. »Bist du angezogen? Kann ich reinkommen?«
»Attends, j’arrive.«
Léonie band ihren Morgenmantel zu und strich sich die Haare aus dem Gesicht, wobei sie erstaunt feststellte, dass ihre Hände zitterten.
»Was ist denn los?«, fragte er, als sie die Tür öffnete. »Du hast dich ganz verschreckt angehört.«
»Es geht mir gut«, fauchte sie.
»Ganz sicher,
petite?
Du bist kalkweiß.«
»Du warst nicht draußen auf dem Rasen spazieren, oder?«, fragte sie unvermittelt. »Gerade eben, vor ein paar Minuten?«
Anatole schüttelte den Kopf. »Ich bin noch ein Weilchen auf der Terrasse geblieben, nachdem du gegangen bist, aber nur so lange, bis ich meine Zigarette fertiggeraucht habe. Warum?«
»Ich …«, setzte Léonie an, überlegte es sich dann aber anders. »Schon gut. Es ist nicht wichtig.«
Er schob ihre Kleidungsstücke vom Sessel auf den Boden und ließ sich selbst darin nieder.
Wahrscheinlich bloß einer von den Stalljungen.
Anatole fischte sein Zigarettenetui und die Wachsstreichhölzer aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.
»Nicht hier drin«, bat Léonie. »Dein Tabak ist ein ungesundes Zeug.«
Er zuckte die Achseln, griff dann in die andere Tasche und zog ein kleines blaues Büchlein hervor.
»Bitte sehr. Ich habe dir etwas zum Zeitvertreib mitgebracht.«
Er stand auf, schlenderte durchs Zimmer und gab ihr das Büchlein, dann setzte er sich wieder in den Sessel.
»
Voilà«,
sagte er.
»Diables et Esprits Maléfiques et Fantômes de la Montagne.«
Léonie hörte gar nicht zu. Ihre Augen huschten erneut Richtung Fenster. Sie fragte sich, ob das, was sie gesehen hatte, noch immer da draußen war.
»Bist du sicher, dass dir nichts fehlt? Du bist wirklich schrecklich blass.«
Anatoles Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Léonie schaute nach unten auf den kleinen Band in ihrer Hand, als überlegte sie, wie er dorthin gekommen war.
»Mir fehlt nichts«, beteuerte sie verlegen. »Was für ein Buch ist es denn?«
»Ich habe keine Ahnung. Macht einen ziemlich schauderhaften Eindruck, aber könnte für dich genau das Richtige sein! Ich habe es ganz verstaubt in der Bibliothek entdeckt. Der Verfasser ist jemand, den Isolde zu dem Abendessen am Samstag einladen möchte, ein Monsieur Audric Baillard. Die Domaine de la Cade kommt auch darin vor. Anscheinend gibt es alle möglichen Geschichten über Teufel, böse Geister und Gespenster, die irgendwie mit dieser Gegend und vor allem mit diesem Anwesen zusammenhängen und bis in die Religionskriege des siebzehnten Jahrhunderts zurückreichen.« Er lächelte sie an.
Léonie kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Und was hat dich zu dieser großmütigen Tat bewogen?«
»Kann denn ein Bruder nicht aus reiner Herzensgüte seiner Schwester eine spontane Wohltat angedeihen lassen?«
»Manche Brüder, ja, natürlich. Aber du?«
Er hob kapitulierend die Hände. »Also schön, ich gestehe, mein Hintergedanke war, es könnte dich von irgendwelchem Unfug abhalten.«
Anatole duckte sich, als Léonie ein Kissen nach ihm warf.
»Daneben«, lachte er. »Miserabler Wurf.« Er nahm schwungvoll seine Zigaretten und die Streichholzer vom Tisch, sprang auf und war mit wenigen Schritten bei der Tür. »Sag mir Bescheid, wie du mit Monsieur Baillard zurechtkommst. Ich denke, wir sollten Isoldes Einladung zu einem Schlummertrunk im Salon annehmen. Ja?«
»Findest du es nicht seltsam, dass es heute Abend kein Diner gibt?«
Er hob die Augenbrauen. »Hast du Hunger?«
»Äh, nein. Hab ich nicht, aber trotzdem …«
Anatole legte einen Finger an die Lippen. »Na dann, psst.« Er öffnete die Tür. »Viel Spaß mit dem Buch,
petite.
Ich erwarte später einen ausführlichen Bericht.«
Léonie hörte sein Pfeifen und die festen Schritte seiner Stiefel leiser werden, als er den Flur entlang zu seinem Zimmer ging.
Dann das Schließen einer Tür. Erneut senkte sich Stille über das Haus.
Léonie hob das Kissen vom Boden auf und stieg aufs Bett. Sie zog die Knie an, machte es sich bequem und schlug das Buch auf.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die halbe Stunde.
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