Die achte Karte
aus.«
»Anatole sitzt im redaktionellen Beirat einer Zeitschrift für Sammler, antiquarische Ausgaben und dergleichen«, sagte Léonie.
Isolde lächelte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Léonie. »Ich muss noch einmal sagen, wie sehr es mich freut, dass Sie meine Einladung angenommen haben. Ich hatte die Befürchtung, ein ganzer Monat auf dem Lande könnte Ihnen nach den Vergnügungen in Paris recht eintönig erscheinen.«
»Auch in Paris kann man sich schnell langweilen«, entgegnete Léonie liebenswürdig. »Ich bin viel zu oft gezwungen, meine Zeit auf öden Soireen zu verbringen und mir anzuhören, wie Witwen und alte Jungfern darüber klagen, dass unter dem Kaiser doch alles viel besser war. Da lese ich lieber!«
»Léonie ist
une lectrice assidue«,
schmunzelte Anatole. »Hat immer die Nase in irgendeinem Buch. Obwohl ihre bevorzugte Lektüre manchmal ein wenig, wie soll ich sagen, sensationslüstern ist! Ganz und gar nicht mein Geschmack. Gespenstergeschichten und gruselige Schauerromane …«
»Wir schätzen uns glücklich, hier eine wunderbare Bibliothek zu haben. Mein verstorbener Gatte war leidenschaftlicher Historiker und interessierte sich darüber hinaus auch für ungewöhnlichere …« Isolde verstummte, schien nach dem passenden Wort zu suchen. »Sagen wir, für ausgewähltere Themenbereiche.« Sie zögerte erneut. Léonie betrachtete sie aufmerksam, doch Isolde lieferte keine Erklärung, um welche Themen es sich dabei handeln mochte. »Die Bibliothek umfasst viele Erstausgaben und seltene Bände, die Sie sicher interessieren werden, Anatole,« fuhr sie fort, »und die umfangreiche Auswahl an Romanen und Sammelbänden des
Petit Journal
dürfte Sie ansprechen, Léonie. Bitte behandeln Sie die Sammlung so, als wäre sie die Ihre.«
Inzwischen war es kurz vor sieben Uhr. Der Schatten der hohen Kastanienbäume hatte die Sonne fast vollständig von der Terrasse vertrieben, und auch die Rasenflächen weiter hinten lagen im Dunkel. Isolde läutete ein Silberglöckchen, das neben ihr auf dem Tisch stand.
Marieta erschien unverzüglich.
»Hat Pascal das Gepäck gebracht?«
»Schon vor einiger Zeit, Madama.«
»Gut. Léonie, für Sie habe ich das Gelbe Zimmer vorbereiten lassen. Anatole, Sie haben die Anjou-Suite vorne im Haus. Sie geht zwar nach Norden, ist aber ein sehr behaglicher Raum.«
»Ich bin sicher, ich werde mich rundum wohl fühlen«, sagte er.
»Da wir einen so üppigen Nachmittagstee eingenommen haben und Sie sich nach den Strapazen der weiten Reise bestimmt früh zur Ruhe begeben möchten, habe ich für heute Abend kein förmliches Diner geplant. Bitte läuten Sie, falls Sie irgendetwas benötigen. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, um neun Uhr im Salon einen Schlummertrunk einzunehmen. Ich fände es reizend, wenn Sie mir dabei Gesellschaft leisten würden.«
»Vielen Dank.«
»Ja, vielen Dank«, fügte Léonie hinzu.
Alle drei erhoben sich.
»Ich dachte, ich vertrete mir vor Einbruch der Dunkelheit noch ein bisschen die Beine im Garten. Rauche eine Zigarette«, sagte Anatole.
Léonie bemerkte ein kurzes Aufflackern in Isoldes grauen Augen.
»Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich vorschlagen, dass Sie die Erkundung der Domaine auf morgen verschieben. Es wird bald dunkel sein. Ich möchte an Ihrem allerersten Abend hier keinen Suchtrupp nach Ihnen aussenden müssen.«
Einen kurzen Moment lang sagte niemand ein Wort. Dann, zu Léonies Erstaunen, erhob Anatole keine Einwände gegen diese Einschränkung seiner Freiheit, sondern lächelte wie über einen vertraulichen Scherz. Er nahm Isoldes Hand und küsste sie. Absolut korrekt, absolut höflich.
Und dennoch.
»Selbstverständlich, Tante, ganz wie Sie wollen«, sagte Anatole. »Ich bin Ihr ergebener Diener.«
Kapitel 25
∞
N achdem Léonie sich von Bruder und Tante verabschiedet hatte, folgte sie Marieta die Treppe hinauf und über einen Flur im ersten Stock, der sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Das Hausmädchen blieb kurz stehen und zeigte ihr, wo das Wasserklosett war, und gleich daneben ein geräumiges Badezimmer, in dem mittendrin eine ungeheuer große Kupferwanne stand, dann ging es weiter zu Léonies Schlafzimmer.
»Das Gelbe Zimmer, Madomaisèla«, sagte Marieta und wich einen Schritt zurück, um Léonie eintreten zu lassen. »Warmes Wasser ist auf dem Waschtisch. Brauchen Sie sonst noch etwas?«
»Es sieht alles sehr nett aus.«
Das Mädchen machte einen Knicks und zog
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