Die achte Karte
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Paris
D ie eleganten Straßen und Boulevards waren in ein drückendes braunes Zwielicht gehüllt. Auch die
quartiers perdus,
die heruntergekommenen Viertel, die Gassen und Labyrinthe aus Mietshäusern und Elendsquartieren rangen in der stickigen Dämmerung um Atem.
Das Quecksilber sackte ab. Die Luft war kalt geworden.
Gebäude und Menschen, Pferdetrams und Landauer hoben sich gespenstisch in der Dunkelheit ab, tauchten auf und verschwanden wieder wie Phantome. Die Markisen der Cafés auf der Rue d’Amsterdam flatterten im böigen Wind, zerrten an ihren Verankerungen wie angebundene Pferde, die sich losreißen wollten. Auf den Grands Boulevards bebten die Äste der Bäume.
Blätter huschten und tanzten über die Bürgersteige im 9 . Arrondissement und die grünen Wege des Parc Monceau. Niemand spielte Himmel und Hölle oder Räuber und Gendarm. Die Kinder waren alle wohlig warm und geborgen in den Botschaftsgebäuden. Die neuen Telegrafendrähte der Post begannen zu vibrieren und zu singen, und die Tramschienen pfiffen.
Um halb acht machte der Nebel Regen Platz. Er fiel so kalt und grau wie Metallspäne, zuerst leicht, dann heftiger und schwerer. Dienstboten schlossen laut knallend die Fensterläden von Wohnungen und Häusern. Im 8 . Arrondissement suchten diejenigen, die noch draußen unterwegs waren, Schutz vor dem drohenden Unwetter, bestellten sich Bier und Absinth und stritten um die wenigen noch freien Tische im Café Weber auf der Rue Royale. Die Bettler und
chiffonniers,
die kein Zuhause hatten, flüchteten sich unter Brücken und in Eisenbahnunterführungen.
In der Rue de Berlin lag Marguerite Vernier auf der Chaiselongue in ihrer Wohnung. Ein weißer Arm war unter dem Kopf angewinkelt, der andere hing über den Rand des Diwans wie der eines verträumten Mädchens in einem Sommerkahn, so dass die Finger den Teppich berührten. Ein hauchzarter Kontakt. Nur ihre bläulichen Lippen, der lila Bluterguss, der sich wie ein Kragen um ihren Hals schloss, die hässlichen Armbänder aus geronnenem Blut um ihre misshandelten Handgelenke, all das verriet, dass sie nicht schlief.
Wie Prosper Mérimées unglückselige Heldin Carmen war Marguerite auch im Tod noch schön. Das Messer, nach vollbrachter Tat rot gefärbt, lag neben ihrer Hand, als wäre es aus ihren sterbenden Fingern geglitten.
Victor Constant nahm ihre Anwesenheit gar nicht wahr. Für ihn hatte sie in dem Moment aufgehört zu existieren, als er begriff, dass er aus ihr herausgeholt hatte, was herauszuholen war.
Bis auf das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims war alles still. Bis auf den Lichtfleck, den die einsame Kerze warf, war alles dunkel.
Constant knöpfte seine Hose zu und zündete sich eine türkische Zigarette an, dann setzte er sich an den Esstisch, um sich das Tagebuch anzusehen, das sein Diener in Verniers Nachttisch gefunden hatte. »Bring mir einen Cognac.«
Mit seinem eigenen Messer, einem Nontron mit gelbem Griff, durchtrennte Constant die Schnürung, faltete dann das braune Wachspapier auseinander und nahm ein kleines königsblaues Notizbuch heraus. In dem Büchlein waren Tag für Tag Verniers Aktivitäten in diesem Jahr verzeichnet: die Salons, die er besucht hatte; eine Liste von Schulden, akkurat in zwei Spalten eingetragen und dann durchgestrichen, wenn die Schuld beglichen worden war; die Erwähnung einer kurzen Liebäugelei mit den Okkultisten in den ersten Monaten des Jahres, eher als Buchkäufer denn als echter Anhänger; getätigte Anschaffungen, wie zum Beispiel ein Regenschirm und eine limitierte Ausgabe der
Cinq Poèmes
in Edmond Baillys Buchladen auf der Rue de la Chaussée d’Antin.
Die banalen finanziellen Details interessierten Constant nicht, und er blätterte rasch weiter, überflog die Seiten, suchte nach Daten oder Hinweisen, die ihm die Information liefern könnten, um die es ihm ging.
Er suchte nach Einzelheiten über die Affäre zwischen Vernier und der einzigen Frau, die er je geliebt hatte. Noch immer konnte er sich nicht dazu überwinden, ihren Namen zu denken, geschweige denn auszusprechen. Am 31 . Oktober des letzten Jahres hatte sie ihm eröffnet, dass ihre Beziehung ein Ende haben müsse. Und das noch ehe ihre Liaison das Wort überhaupt verdient hatte. Er hatte ihre Zurückhaltung als Sittsamkeit aufgefasst und sie nicht bedrängt. Sein Schock hatte sogleich unbezähmbarer Wut Platz gemacht, und er hätte sie beinahe getötet. Ganz sicher sogar, wenn ihre Schreie nicht die Nachbarn im
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