Die achte Karte
wiedererkannte. Es war derselbe Mann, den sie früher am Abend auf dem Place des Deux Rennes gesehen hatte, wie er im Trauerzug direkt hinter dem Sarg gegangen war. Irgendwie war es ihr unangenehm, das über ihn zu wissen. Als hätte sie ihm nachspioniert, obwohl das gar nicht ihre Absicht gewesen war.
Sie sah ihn an. »Okay.« Dann bat sie den Barkeeper:
»S’il vous plaît.«
»Très bien, Madame. Votre chambre?«
Meredith zeigte ihm ihren Schlüsselanhänger und blickte dann wieder zu ihrem Nachbarn an der Bar. »Danke für den Tipp.«
»Gern geschehen«, sagte er.
Meredith rutschte auf ihrem Hocker hin und her. Sie war ein bisschen verlegen und unsicher, ob sie eine richtige Unterhaltung mit ihm anfangen sollte oder nicht.
Er traf die Entscheidung für sie, indem er sich unvermittelt umdrehte und ihr über den Abstand aus Leder und Holz zwischen ihnen die Hand hinstreckte.
»Ich bin übrigens Hal«, sagte er.
Sie nahm seine Hand. »Meredith. Meredith Martin.«
Der Barkeeper legte einen Papieruntersetzer vor sie und stellte ein Glas mit einem sattgelben Wein darauf. Diskret schob er ihr auch die Rechnung und einen Stift hin.
Meredith war sich überaus bewusst, dass Hal sie beobachtete, als sie den ersten Schluck trank. Der Chardonnay war leicht, zitronig, rein, und erinnerte sie an die Weißweine, die Mary und Bill bei besonderen Anlässen servierten oder wenn sie übers Wochenende nach Hause kam.
»Wunderbar. Gute Empfehlung.«
Der Barkeeper sah Hal an.
»Encore un verre, Monsieur?«
Hal nickte. »Danke, George.« Dann wandte er sich ihr halb zu. »Also, Meredith Martin. Sie sind Amerikanerin.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da stützte er die Ellbogen auf den Tisch und fuhr sich mit den Fingern durch sein widerspenstiges Haar. Meredith fragte sich, ob er ein bisschen betrunken war.
»’tschuldigung, das war ziemlich blöd.«
»Schon gut«, lächelte sie. »Und ja, ich bin Amerikanerin.«
»Gerade angekommen?«
»Vor zwei Stunden.« Sie trank noch einen Schluck Wein und spürte, wie der Alkohol ihr den Magen wärmte. »Und Sie?«
»Meinem Vater …« Er stockte, sah sie mit kummervoller Miene an. »Meinem Onkel gehört der Laden hier«, beendete er den Satz. Meredith dachte sich, dass sie die Beerdigung von Hals Vater mit angesehen hatte, und empfand noch mehr Mitgefühl für ihn. Sie wartete, bis sie spürte, dass sein Blick zu ihr zurückkehrte.
»Tut mir leid«, sagte er. »War kein besonders guter Tag.« Er leerte sein Glas und griff dann nach dem nächsten, das der Barkeeper ihm hingestellt hatte. »Sind Sie geschäftlich hier oder zum Vergnügen?«
Meredith kam sich vor, als wäre sie in irgendeinem surrealen Stück gelandet. Sie wusste, warum er so gequält wirkte, konnte es aber nicht zugeben. Derweil versuchte Hal mit einer Wildfremden Konversation zu machen und verpasste sämtliche Einsätze. Die Pausen zwischen seinen Äußerungen waren viel zu lang, seine Gedankengänge zusammenhanglos.
»Sowohl als auch«, antwortete sie. »Ich schreibe.«
»Journalistin?«, fragte er rasch.
»Nein. Ich arbeite an einem Buch. Eine Biographie über Claude Debussy.«
Meredith sah, wie der Funken in seinen Augen erlosch, ehe sie denselben verschleierten Blick wie zuvor annahmen. Nicht die Reaktion, die sie sich erhofft hatte.
»Das Hotel ist sehr schön«, sagte sie schnell und schaute sich in der Bar um. »Ist Ihr Onkel schon lange hier?«
Hal seufzte. Meredith sah, dass er zornig die Fäuste ballte.
»Er und mein Vater haben es 2003 gemeinsam gekauft. Und ein Vermögen für die Renovierung ausgegeben.«
Meredith fiel nichts ein, was sie als Nächstes sagen sollte. Er machte es ihr aber auch nicht gerade leicht.
»Erst dieses Jahr im Mai ist Dad endgültig hergezogen. Er wollte sich mehr beteiligen, an der eigentlichen Führung des … Er …« Hal verstummte. Meredith hörte das Beben in seiner Stimme. »Er ist vor vier Wochen bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Er schluckte schwer. »Heute war die Beerdigung.«
Vor lauter Erleichterung, dass es endlich heraus war, streckte Meredith den Arm aus und ergriff Hals Hand, ehe ihr richtig bewusst wurde, was sie da tat.
»Mein Beileid.«
Sie sah, wie sich seine Schultern ein wenig entspannten. Einen Moment lang blieben sie einfach stumm so sitzen, Hand in Hand, dann löste sie sachte ihre Finger unter dem Vorwand, nach ihrem Glas greifen zu wollen.
»Vier Wochen? Und heute war erst die …«
Er sah sie an. »Es gab ein
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