Die achte Karte
Augen unverwandt auf sie gerichtet waren. Zu ihrer Bestürzung merkte sie, dass sie rot wurde.
»Die Recherche macht mir mehr Spaß als das eigentliche Schreiben«, sagte sie schnell. »Das geistige Ausgraben. Das Nachgrübeln über Partituren und alten Zeitungsartikeln und Briefen, um etwas wieder zum Leben zu erwecken, einen Augenblick, eine Momentaufnahme der Vergangenheit. Im Grunde geht es um Rekonstruktion, um Kontext, darum, sich in eine andere Zeit, an einen anderen Ort zu versetzen, aber mit dem Vorteil, im Nachhinein alles besser zu wissen.«
»Detektivarbeit.«
Meredith sah ihn forschend an, vermutete seine Gedanken woanders, aber er blieb bei der Sache.
»Wann hoffen Sie, fertig zu werden?«
»Abgabetermin ist der April kommenden Jahres. Ich habe jetzt schon viel zu viel Material. Sämtliche wissenschaftlichen Essays in den
Cahiers Debussy
und den
Œuvres complètes de Claude Debussy,
Notizen zu jeder Debussy-Biographie, die je erschienen ist. Außerdem war Debussy ein eifriger Briefeschreiber. Er hat für die Tageszeitung
Gil Blas
geschrieben und etliche Besprechungen in der
Revue Blanche
veröffentlicht. Egal was, ich habe alles gelesen.«
Plötzlich überkam sie ein schlechtes Gewissen, als ihr klar wurde, dass sie noch immer ungerührt weiterredete, wo er doch um seinen Vater trauerte.
Sie sah zu ihm hinüber und wollte sich für ihre Taktlosigkeit entschuldigen, doch da fiel ihr etwas auf. Das jungenhafte Gesicht, seine Miene, plötzlich erinnerte er sie an jemanden. Sie überlegte krampfhaft, an wen, kam aber nicht drauf.
Müdigkeit erfasste sie. Sie sah Hal an, der seinen eigenen traurigen Gedanken nachhing. Sie brachte nicht mehr die Energie auf, das Gespräch noch weiter in Gang zu halten. Zeit, ins Bett zu gehen.
Sie rutschte von ihrem Hocker und sammelte ihre Sachen ein.
Hals Kopf fuhr hoch. »Sie wollen doch nicht schon gehen?«
Meredith bat mit einem Lächeln um Entschuldigung. »Es war ein langer Tag.«
»Natürlich.« Auch er stand auf. »Hören Sie«, sagte er. »Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich ziemlich unverschämt, aber ich dachte, wir könnten vielleicht … das heißt, falls Sie morgen überhaupt Zeit haben, wir könnten vielleicht was zusammen unternehmen. Oder uns auf einen Drink treffen?«
Meredith blinzelte vor Verblüffung.
Einerseits gefiel ihr Hal. Er war nett und charmant und brauchte offensichtlich dringend jemanden zum Reden. Andererseits musste sie sich darauf konzentrieren, möglichst viel über ihre Herkunftsfamilie herauszufinden – und das allein. Sie wollte niemanden dabeihaben. Und sie konnte förmlich Marys Stimme hören, die sie warnte, dass sie schließlich so gut wie nichts über diesen Mann wusste.
»Aber Sie haben bestimmt viel zu tun …«, setzte er an.
Der enttäuschte Unterton in seiner Stimme gab den Ausschlag. Außerdem hatte sie, abgesehen von der Zeit mit Laura während der Tarot-Sitzung – und die zählte eigentlich nicht –, seit Wochen kein Gespräch mehr geführt, das mehr als ein paar Sätze umfasste.
»Nein, nein, von mir aus gern«, hörte sie sich selbst sagen.
Diesmal lächelte Hal richtig, und sein ganzes Gesicht strahlte. »Prima.«
»Aber ich wollte ziemlich früh los. Ein bisschen Recherche betreiben.«
»Ich könnte doch mitkommen«, schlug er vor. »Vielleicht kann ich Ihnen sogar ein bisschen behilflich sein. Ich kenne die Gegend zwar nicht wie meine Westentasche, aber ich komme immerhin seit fünf Jahren regelmäßig her.«
»Es könnte ziemlich langweilig werden.«
Hal zuckte die Achseln. »Damit komme ich klar. Wissen Sie schon, wo Sie genau hinwollen?«
»Ich dachte, ich gehe spontan vor.« Sie zögerte. »Ich hatte gehofft, das alte Kurhaus in Rennes-les-Bains würde mich weiterbringen, aber das ist den Winter über geschlossen. Ich dachte, ich frage mal im Rathaus nach, ob mir da jemand weiterhelfen kann.«
Hals Gesicht verfinsterte sich. »Die können Sie vergessen«, stieß er heftig hervor. »Das ist, als würde man mit dem Kopf gegen eine Wand rennen.«
»Verzeihung«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht daran erinnern, dass …«
Hal schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich muss mich entschuldigen.« Er seufzte, dann lächelte er sie wieder an. »Ich hab da eine Idee. In Rennes-le-Château gibt es ein Museum, wo Sie gerade zu der Epoche, um die es Ihnen geht, etwas Interessantes finden könnten. Ich bin nur ein einziges Mal dort gewesen, aber ich erinnere mich, dass es einen guten
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