Die achte Offenbarung
war. Was für eine entsetzliche Vorstellung, dass vielleicht Millionen Menschen sterben mussten, weil eine Telefonistin zu borniert war, um einen Anrufer zu verbinden.
Hatte es nicht angeblich auch vor den Anschlägen des 11. September Warnungen gegeben, die irgendwo in den Kommunikationsknoten der amerikanischen Sicherheitsbehörden steckengeblieben waren? Wenn sie Glück hatten, würde mit den Informationen über das Manuskript dasselbe passieren, dachte er in einem Anflug von Sarkasmus. Doch darauf konnten sie sich nicht verlassen.
»Das bringt nichts«, sagte er. »Wir müssen hinfahrenund mit Ferry persönlich sprechen. Am besten verschwinden wir so schnell wie möglich von hier. Ich bin nicht sicher, wozu unsere Feinde fähig sind, aber ich möchte es auch nicht unbedingt herausfinden.«
»Gleich. Ich muss erst noch meinen Vater anrufen und ihn warnen.« Mele griff nach dem Hörer.
Paulus legte seine Hand auf ihren Arm. »Lass das lieber. Möglicherweise beobachten sie ihn, so wie sie uns beobachtet haben. Solange er glaubt, das Manuskript sei echt, werden sie ihm nichts tun. Die wollen bestimmt nicht mehr Aufmerksamkeit erregen als unbedingt nötig, und es wäre schwierig, einen Mord an deinem Vater wie die Tat von Islamisten aussehen zu lassen, die doch eigentlich gar nichts von ihm wissen können. Wenn du ihn aber anrufst, während sie sein Telefon überwachen oder das Haus abhören, bringst du ihn vielleicht in Gefahr.«
Mele nickte. »Du hast recht. Aber ich fühle mich nicht wohl dabei, ihn über die Bedrohung im Unklaren zu lassen.«
»Glaub mir, es ist besser so.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Mele, während Paulus die Telefonrechnung bezahlte.
»Erst mal verschwinden wir von hier«, sagte er mit einem Seitenblick auf den Mann an der Kasse. Er stellte sich vor, wie irgendwelche finsteren Typen, die Paulus’ Anruf hierher zurückverfolgt hatten, den armen Kerl in die Mangel nahmen. Er verdrängte den Gedanken. Vielleicht wurde er langsam paranoid.
Sie gingen zurück zum Bahnhof und stiegen in den nächsten Zug Richtung Hannover. Im Zug löste Paulus zwei Tickets nach Lüneburg.
»Lüneburg?«, fragte Mele. »Was wollen wir denn da?«
»Übernachten«, sagte Paulus. »Ich kenne da ein hübsches kleines Hotel.« Er lächelte.
Mele verdrehte die Augen. »Männer!«
Er wurde ernst. »Irgendwo müssen wir übernachten, und ich möchte nicht mehr Zeit in Berlin oder Hamburg verbringen als nötig. In Lüneburg sucht uns sicher keiner.«
Das Hotel war in einem alten Fachwerkhaus untergebracht und lag direkt an dem kleinen Fluss Ilmenau. Paulus hatte hier einmal eine stürmische Nacht mit einer Studentin verbracht, die von seinen Kenntnissen über die alte Hansestadt und seiner Großzügigkeit beeindruckt gewesen war. Leider nicht für sehr lange.
Da sie vor dem nächsten Morgen nichts Sinnvolles tun konnten, spazierten sie durch die Innenstadt, die immer noch einen Abglanz ihrer früheren Bedeutung als Zentrum des Salzhandels ausstrahlte. Sie aßen in einem italienischen Restaurant und versuchten bei Rotwein und Lasagne die Bedrohung für eine Weile zu vergessen. Es gelang Paulus nicht.
Als er am nächsten Morgen erwachte, wandte er sich zu Mele um und betrachtete ihr Gesicht, das im Schlaf sanft und irgendwie glücklich wirkte. Dafür, dass die Welt am Rand des Abgrunds stand, hatte er erstaunlich gut geschlafen. Vielleicht lag das an der Art, wie sie sich gestern geliebt hatten – weniger ungestüm, zärtlicher als beim ersten Mal, jede köstliche Sekunde auskostend.
Die gestern noch so intensiv empfundene Bedrohung schien im Licht der Morgensonne, die sich zwischen den Vorhängen hindurch ins Zimmer zwängte, zu verblassen wie ein böser Traum. Es mochte ja sein, dass die Verschwörer einen Historiker und ein paar Studenten mit ihrer abenteuerlichen Konstruktion ins Bockshorn jagen konnten. Aber die Profis von der CIA würden bestimmt nicht auf diesen Quatsch reinfallen. Schon gar nicht würdensie wegen einer angeblichen Botschaft aus der Zukunft einen Atomkrieg vom Zaun brechen!
Der Gedanke beruhigte ihn. Er stand auf und duschte.
Als er zurückkam, war Mele wach. Sie lächelte und streckte sich. »Guten Morgen!«
Als sein Blick auf ihren nackten Körper fiel, hatte er Lust, wieder zu ihr unter die Decke zu schlüpfen. Stattdessen fragte er: »Wollen wir frühstücken gehen?«
Sie nickte.
Kurz darauf saßen sie im Frühstücksraum des Hotels.
»Ich habe noch mal nachgedacht«,
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