Die achte Offenbarung
sich so konzentrieren?
Irgendwann kam Mele zu ihm, die sich kurz nach dem Mittagessen in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. »Was machst du denn da die ganze Zeit?«
»Ich versuche, das Manuskript zu entziffern«, sagte Paulus in unwirschem Tonfall. Warum er so gereizt war, wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht, weil sich der Text hartnäckig all seinen Übersetzungsversuchen widersetzte. Doch Paulus war eigentlich ein geduldiger Mensch, besonders, wenn es um mittelalterliche Texte ging. Wissenschaftliche Arbeit vertrug keine Hektik.
Wahrscheinlich war es eher das plötzliche Auftauchen des Arabers, das ihn nervös machte. Wie hatte er Paulus nach Köln verfolgen können? Was, zum Kuckuck, war an diesem verdammten Manuskript so wichtig? Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, war es, den Text zu entschlüsseln. Doch wie sollte er das ohne Computer und geeignete Software schaffen?
Was er brauchte, war nicht Rechenleistung, wurde ihm klar. Was er brauchte, war eine Offenbarung – ein erhellender Einfall, der die kryptischen letzten Zeilen des Textes erklärte:
Wisse, dass alles, was der erste Engel mir sagte, hinter den Worten verborgen ist, welche die alten Könige bezeugen, die neben
den jungen im Lichte Gottes stehen, wo die Heiligsten ruhen. Denn diese standen über mir, als der Engel mir erschien, wo ich in Seinem prachtvollen Haus
zum Gebet kniete, am Ziel meiner Wallfahrt im Jahre des Herrn 1411.
Welche Worte bezeugten diese vermaledeiten Könige im Kölner Dom?
»Ich glaube, du brauchst mal eine Pause«, sagte Mele. Sie begann, seine Schultern zu massieren.
Paulus versteifte sich. Was sollte das denn jetzt?
»Was ist los? Magst du es nicht?«
»Du … ich weiß nicht …«
»Nun stell dich nicht so an. Ich massiere dich doch bloß.«
»Ist schon okay. Ich bin nicht verspannt. Aber danke.«
Sie lachte hell. »Du, nicht verspannt?« Aber sie ließ von ihm ab. Sie schien nicht einmal irritiert zu sein.
Paulus versuchte, sich wieder auf das Entschlüsseln des Textes zu konzentrieren, aber es fiel ihm verdammt schwer. Ihre Berührung hatte ein absurdes Verlangen in ihm entfacht, das er mit aller Macht niederzukämpfen versuchte.
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Ein leichter Duft von Parfüm stieg ihm in die Nase. Paulus wäre es lieber gewesen, sie hätte sich auf die andere Seite des Tisches gesetzt.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie seine Aufzeichnungen. »Was sollen denn all diese komischen Buchstaben hier?«
»Das da kommt heraus, wenn ich die Glyphen in dem Buch durch lateinische Buchstaben ersetze«, erklärte Paulus und zeigte auf eines der Blätter. »Die Buchstaben sind offenbar vertauscht. Ich vermute, dass dieser Teil des Buchs mit der sogenannten Vigenère-Methode verschlüsselt wurde. Dafür braucht man ein Schlüsselwort. Ich weiß leider nicht, welches. Deshalb probiere ich alle möglichen Wörter aus, die ich im Kölner Dom gefunden habe.«
»Und woher weißt du, dass das Schlüsselwort im Kölner Dom ist?«
Er zeigte ihr die entsprechende übersetzte Textpassage. »Hier, da steht es. Als Hermo von Lomersheim die Erscheinung hatte, standen über ihm die alten Könige neben den jungen im Lichte Gottes. Damit sind die Fenster im Oberchor gemeint, glaube ich. 48 Könige, die Hälfte davon mit Bart, die andere Hälfte ohne.«
»Die Apokalypse«, sagte Mele.
»Was?«
»Die 24 alten Könige sind die Ältesten aus der Offenbarung des Johannes. Das vermutet man wenigstens. Also bezeugen sie wahrscheinlich die Apokalypse.«
Paulus starrte eine Minute auf den Text. Es war nicht zu fassen! Er hatte die Lösung die ganze Zeit vor Augen gehabt. Das Wort, das er suchte, war nicht im Kölner Dom zu finden. Die Könige waren lediglich das Symbol dafür. Er hätte sich die Fahrt nach Köln sparen können. Dann aber wäre er Mele nicht begegnet, und ohne sie wäre er nicht auf die richtige Idee gekommen.
Aber hatten die Könige im Dom wirklich etwas mit der Apokalypse zu tun? »Hast du einen Rechner mit Internet?«, fragte er.
»Ich nicht, aber Dirk.«
Sie klopfte an die Tür des Zimmers, aus dem Dirk nicht mehr herausgekommen war, seit Mele sich zu Paulus gesellt hatte. »Dirk? Können wir mal an deinen Rechner?«
»Geht gerade nicht, ich muss arbeiten«, hörte Paulus seine gedämpfte Stimme.
»Bitte, es dauert nicht lange. Wir wollen bloß kurz was nachgucken.«
Mit deutlich hörbarem Schnauben öffnete der Student die Tür. »Na gut, aber macht
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