Die achte Offenbarung
deutsche Herz geboren, das große Macht haben wird, es wird hinausjagen das fremde Volk Arabiens, Wendepunkt der Kirche oder so ähnlich. Das klingt, als wenn Nostradamus Hitlers Aufstieg und die Judenverfolgung beschrieben hätte. Oder diese Stelle: Kampflärm wird am Himmel zu hören sein, so dass die Götter sogar zu Feinden werden, die heiligen Gesetze werden angefochten, durch Blitz und Krieg werden die Gläubigen sterben. Offenbar wusste Nostradamus schon, dass es eines Tages Luftschlachten und Bombenkriege geben würde. Und natürlich sein berühmtester Vers: Jahr 1999, siebenter Monat. Vom Himmel kommt ein großer Schreckenskönig. Das hat die Esoteriker in den Neunzigern in große Aufregung versetzt. Nur ist dummerweise im Juli 1999 kein großer Schreckenskönig vom Himmel gekommen.«
»Vielleicht hat man die Verse von Nostradamus bloß falsch interpretiert«, meinte Mele.
»In der Tat, das hat man. Weil es darin nämlich überhauptnichts richtig zu interpretieren gibt. Das ist nichts anderes als Kaffeesatz in Reimform. Das erkennst du schon daran, dass es so schön unpräzise und mysteriös formuliert ist. Wenn es exakte Angaben wären, könnte man sie nachprüfen. Man müsste sie nicht interpretieren und so lange verbiegen, bis sie dem entsprechen, was man gern herauslesen möchte.«
»Aber dieser Mönch hat doch das Auftauchen der Jungfrau von Orleans ganz präzise beschrieben, sogar mit dem Datum ihres Todestages.«
»Ja genau, aber eben im Nachhinein. Ich bin sicher, die Beschreibungen, die sich auf die Zeit nach der Entstehung des Manuskripts beziehen, werden genauso vage sein wie die des Nostradamus. Aber das hindert natürlich irgendwelche Spinner nicht daran, das für bare Münze zu nehmen und allen möglichen Quatsch hineinzudeuten.«
»Und du glaubst, einer von diesen Spinnern ist hinter dir her?«
»Es wäre möglich. Vielleicht gibt es eine Sekte oder so was, für die dieses Buch heilig ist.«
»Und dieser Amerikaner? Meinst du, den bedrohen sie auch?«
Paulus erschrak. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Er wählte Liebermans Nummer, erreichte jedoch wieder nur die Mailbox. Beunruhigt bat er erneut um Rückruf. Dann machte er sich wieder an die Arbeit.
»Willst du nicht langsam mal Pause machen?«, fragte Mele irgendwann. Sie hatte die ganze Zeit still neben Paulus gesessen, als gäbe es nichts Interessanteres, als ihm bei seiner akribischen Übersetzungsarbeit zuzusehen. Paulus war zu müde, um sich darüber zu wundern.
Er sah auf die Uhr. Es war halb vier morgens. Er hatte Schwierigkeiten, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.Die Glyphen tanzten vor seinen Augen, und immer häufiger verrutschte er in der Zeile oder Spalte der Viginère-Tabelle und las den falschen Buchstaben ab. Zum Glück merkte man das daran, dass sich ein Schreibfehler in einem Wort ergab, und er konnte es korrigieren. Aber die Dekodierung ging immer langsamer voran. In den letzten zwei Stunden hatte er nur einen kurzen Abschnitt in Klartext übersetzt:
Die Stadt des Konstantin wird belagert werden von den Heiden. So zahlreich werden sie sein, dass man von den Mauern das Ende des Heeres nicht sehen kann. Unverbrüchlich im Glauben werden die Verteidiger dem Ansturm trotzen. Doch wird ihre Zahl gering sein, und so werden sie ihre Christenbrüder um Hilfe anrufen. Diese aber werden die Ohren verschließen vor ihrem Flehen.
Es fehlten noch ein paar Worte, bis wieder eine astronomische Datumsangabe zwischen den Glyphen eingefügt war.
»Nur noch diesen Satz hier«, sagte er.
Mit der Aussicht auf Schlaf gelang es ihm, Kraftreserven zu mobilisieren, und die nächsten Wörter formten sich wieder etwas schneller:
Also werden sie fallen, und das östliche Reich wird untergehen.
Die astrologische Zeichenfolge zeigte Jupiter im Zeichen der Fische, Saturn in der Jungfrau, Mars im Krebs und den Mond im Wassermann.
Paulus war klar, dass die Zeilen die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen beschrieben. Das war Mittedes 15. Jahrhunderts geschehen. Wenn, wie er vermutete, die Datumsangabe stimmte, dann handelte es sich auch bei diesem Abschnitt um eine Vorhersage im Nachhinein, die der Mönch aus Gründen der Glaubwürdigkeit eingefügt hatte. Aber das konnte er morgen immer noch überprüfen.
Er streckte sich. »Schluss für heute. Gute Nacht, Mele. Und danke noch mal für deine Hilfe.«
Sie lächelte. »Das ist so ziemlich das Aufregendste, was mir je passiert ist«, sagte sie mit kindlichem
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